Zentrales Element der praxeologischen Veränderungstheorie ist das Allgemeine Dialektische Veränderungsmodell für Psychotherapie und Psychoanalyse (ADVM) nach Gottfried Fischer (1989). Das Modell beschreibt, wie Veränderungen in der Psychotherapie zustande kommen. Dabei lässt sich jeder Veränderungsschritt als Zyklus mit vier Phasen begreifen. Das ADVM eignet sich als Heuristik, um Behandlungsverläufe zu untersuchen und psychotherapeutisches Vorgehen zu planen. 

         



Phase 1: Arbeitsbündnis
In der ersten Phase muss ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis als Therapiegrundlage geschaffen werden. Es bildet die Voraussetzung für alle weiteren Schritte (Stabilisierung, Sicherheitsvermittlung etc.). Es dient als sicherer „Gegenpol zur traumatischen Erfahrung“ (Fischer und Riedesser, 2003, S. 221) und damit auch als Gegengewicht zur Übertragungsbeziehung. Die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Patient funktioniert auf einer Metaebene (in Hinblick auf die Übertragungsbeziehung zwischen beiden, s. Phase 2) und bestimmt von dort die Bedeutung psychotherapeutischer Handlungen und Vereinbarungen.

Phase 2: Übertragungsbeziehung
In der zweiten Phase steht die Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient im Mittelpunkt. Durch seine traumatische Erfahrung hat der Patient häufig rigide Beziehungsmuster entwickelt, die er quasi als Schablone über alle Beziehungen (dieses Typs) legt. Daher bringt er diese Muster auch in die therapeutische Beziehung ein und überträgt damit seine frühere Erfahrung auf die aktuelle Situation. Er projiziert die Rolle anderer Personen auf den Therapeuten. Es kommt zu einer Reinszenierung der traumatischen Erfahrung bzw. immer gleicher Beziehungskonstellationen. Dabei trifft die Übertragungsbeziehung allerdings auf das Arbeitsbündnis. Optimalerweise erlebt der Patient einen subjektiven Widerspruch durch den Kontrast zwischen den negativen projizierten Beziehungserfahrungen und der tatsächlich positiven therapeutischen Beziehung. Dies bezeichnet man als minimale Differenz zwischen Arbeits- und Übertragungsbeziehung. Das Herstellen der minimalen Differenz bildet die fundamentale Voraussetzung für eine funktionierende therapeutische Arbeit.

Phase 3: Dekonstruktion
Die widersprüchliche Erfahrung zwischen positiver therapeutischer Beziehung und bisherigen negativen Beziehungsmustern führt im idealen Fall zur so genannten optimalen Differenz. Dieser Begriff aus Piagets Entwicklungstheorie beschreibt die Unstimmigkeit zwischen Schema (bisheriges Beziehungsmuster) und neuem Objekt (therapeutische Beziehung). Damit versagt das alte Schema und muss überarbeitet werden. Bisherige Bedeutungen werden aufgebrochen und verändert. Diese Dekonstruktion – der Neu-Aufbau des Schemas – geschieht mittels Akkommodation. Die positive Erfahrung kann von dem neuen Schema dann wieder assimiliert werden. 

Phase 4a: Konstruktion
Mit der Konstruktion gelingt die Reorganisation der pathogenen Schemata mit Hilfe eines neuen Entwurfs oder Problemlösemöglichkeiten für aktuelle Beziehungen. Die Konstruktion entspricht der dialektischen Aufhebung im Hegelschen Sinne und enthält die Metaebene als neuen Standpunkt.

Phase 4b: Rekonstruktion
Nachdem der Patient seine alten Beziehungsmuster erfolgreich verändert und auf die Gegenwart angewendet hat, kann er mit diesem reorganisierten Wissen auch die Vergangenheit neu betrachten. Negative Erfahrungen lassen sich auf diesem Weg anders interpretieren, die Lebensgeschichte wird damit aus einer hilfreicheren Perspektive rekonstruiert. In diesem Prozess befruchten sich die Phasen 4a und 4b gegenseitig. Es entsteht eine zirkuläre bzw. spiralförmige Beziehung zwischen Konstruktion und Rekonstruktion: aufgespaltene Beziehungsmuster werden korrigiert, traumatische Erinnerungen auf diesem Hintergrund bearbeitet und durch diese Bearbeitung der Vergangenheit wiederum der konstruktive Lösungsentwurf unterstützt. Mit Fischers Worten (Fischer, 1989):

„Nur beides zusammen, also der volle Zirkel von Konstruktion und Rekonstruktion der traumatischen Erfahrung erfüllt das Kriterium einer kausalen (ursächlichen) Heilung in der Therapie des traumatischen Prozesses.“

 

Therapeutische Missallianz
Gelingt es im Zusammenspiel von Phase 1 und Phase 2 nicht eine optimale Differenz und damit die Dekonstruktion des alten Schemas zu erreichen, kann keine Veränderung erzielt werden. Dafür gibt es zwei Gründe: Die Ähnlichkeit des therapeutischen Übertragungsschemas mit dem alten Beziehungsschema ist entweder zu groß oder zu klein. Häufig hängt dies von der richtigen Balance zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsfokussierung in der Therapie ab. Bei übermäßigem Vergangenheitsbezug fällt die Differenz zwischen Arbeitsbündnis und Übertragungsbeziehung häufig zu weit aus. Die Beziehungsformen sind zu unähnlich, um sich gegenseitig zu korrigieren. Umgekehrt ähneln sich beide bei zu großem Gegenwartsbezug womöglich so sehr, dass die Therapiesituation vom Patienten retraumatisierend erlebt wird.

Bleibt die optimale Differenz langfristig aus, kann es dadurch zur therapeutischen Missallianz kommen, d. h. zu einer Störung oder sogar Blockade des therapeutischen Arbeitsbündnisses. Eine solche Blockade kann sich darüber hinaus auch durch Fehler des Psychotherapeuten bei der Gegenübertragungsanalyse ergeben. Die folgende Abbildung veranschaulicht diesen Vorgang.







Aus der psychodynamisch-dialektischen Psychotherapie lassen sich einige Vorgehens-weisen auf das allgemeine Konzept einer kausalen Psychotherapie übertragen, die zeigen, wie Veränderungsprozesse in der Therapiepraxis gefördert werden können.

Semiotischer Aspekt
Semiotische Ebenen können mit verschiedenen Therapieverfahren in Zusammenhang gebracht werden (Fischer, 2007):

  Therapieverfahren (Beispiele)

  Semiotische Ebene

  Therapeutisches Gespräch

  Symbolisch

  Verhaltenstechniken, Übungen,   Psychodrama

  Indexikalisch

  Traumdeutung, Visualisierung, katathyme   Prozesse

  Ikonisch

In der ersten Therapiephase geht es immer darum, den semiotischen Stil des Patienten zu erkennen und an diesen anzuschließen. Langfristig soll er schrittweise erweitert werden, bis alle semiotischen Ebenen integriert sind. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Interventionsreihenfolgen unterscheiden:

Top down
Hier setzt der Therapeut bei der „obersten“ semiotischen Ebene an, nämlich der symbolisch-sprachlichen. Durch Dekonstruktionen wird die Sprache für das Handeln (= indexikalische Ebene) geöffnet, um letzten Endes Sprechen und Handeln wieder zu synchronisieren. Schließlich sollte die Handlungsebene z. B. durch Trancezustände ausgeblendet werden, um dem Bildhaft-Ikonischen Raum zu geben.

Bottom up
Umkehrt ist es möglich, vom Ikonischen auszugehen und damit quasi die kindliche Entwicklung nachzuvollziehen. Der Ausbildung sensomotorischer Schemata entspricht der Übergang von der ikonischen zur indexikalischen Ebene. Dieser Schritt zur Handlungsfähigkeit kann in der Therapie z. B. durch meditative Übungen wie dem „motorischen ‚Pendeln’“ nachgestellt werden. Dennoch bleibt auch beim Nacherleben dieser semiotischen Ebenen eine sprachliche Einbindung bewahrt.
Die sprachliche Begleitung des therapeutischen Prozesses ist in jedem Fall elementar, kann aber je nach aktuellem semiotischen Schwerpunkt variiert werden.

Empathische Aussagen des Therapeuten, die das Innenleben des Patienten im Sinne der Gesprächstherapie nach Carl Rogers (1902-1987) „’spiegeln’“, passen sich gut an die bildhafte Ebene an, wie der Name der Technik bereits nahe legt. Gegenüber diesen eher deskriptiven Äußerungen lassen sich aktionale Therapeutenaussagen abgrenzen. Dazu gehören z. B. Handlungsaufforderungen, die man gut auf Verhaltensübungen der indexikalischen Ebene abstimmen kann.

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Allgemeines Dialektisches Veränderungsmodell (ADVM)                                                          Seite 1 / 2
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