Es ist heute allgemein anerkannt, dass das Erleben von Extremsituationen wie z.B. Krieg, Folter, sexueller Missbrauch oder Unfälle den Rahmen alltäglicher menschlicher Erfahrungen in dramatischer Weise übersteigt und spezifische psychische und körperliche Beeinträchtigungen zur Folge haben kann (vgl. Sachsse et al., 2004, S. 7). Das Gebiet, in dem diese Folgen extrem belastender und/oder lebensbedrohlicher Ereignisse beschrieben, untersucht und behandelt werden, wird als Psychotraumatologie bezeichnet.
Bei der Psychotraumatologie handelt es sich um eine vergleichsweise junge Wissenschaft (vgl. Venzlaff, 2005, S. 289). Die ersten wissenschaftlichen Beschreibungen traumatischer Reaktionen finden sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Symptome, die der heutigen Posttraumatischen Belastungsstörung entsprechen, wurden damals jedoch rein organisch interpretiert.

 

Die Anfänge im 19. Jahrhundert: Organische Perspektive
Man untersuchte beispielsweise Patienten nach Arbeitsunfällen und Zugunglücken und führte ihre (PTBS-)Symptomatik auf eine krankhafte Veränderung des Rückenmarks auf molekularer Ebene zurück. Dieses Phänomen wurde als Railway Spine bezeichnet (vgl. Erichsen, 1866). Allerdings wies nicht jedes psychische Leiden dieser Art einen organischen Befund auf. Daher entwickelte Oppenheim (1889) auf Basis der Railway-Spine-Überlegungen das Konzept der traumatischen Neurose, das er in seinem gleichnamigen Werk beschreibt (Oppenheim, 1889, S. 483 ff.). Nur verstand er dieses Krankheitsbild wiederum als Folge einer (durch ein äußeres Ereignis verursachten) Schädigung des Zentralen Nervensystems (ZNS). Damit legte er letzten Endes ebenfalls eine physische Ursache zugrunde, wenngleich er von einer funktionellen Störung ausgeht – die aber eben noch nicht mit einer psychischen gleichzusetzen ist.

Zwar entspricht die Einbeziehung physischer Veränderungen bei der Betrachtung traumatischer Erkrankungen durchaus modernen neurobiologischen Erkenntnissen, doch fehlte noch die Anerkennung des Traumas als psychische Kategorie bzw. seiner psychischen Genese, die von traumatischen Erlebnissen veranlasst wurde. Dies wurde nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der 1884 in Deutschland eingeführten gesetzlichen Unfallversicherung deutlich. Bei der Begutachtung potenziell Begünstigter wurden deren psychische Symptome ohne erkennbare (körperliche) Ursache als bloße Simulation deklariert oder mit einer prämorbiden Veranlagung des Patienten begründet. Die Problematik der Nichtanerkennung traumatischer Ursachen psychischer Erkrankungen erscheint noch bis Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder und drückt sich in Begriffen wie Unfall-, Renten- oder Kriegsneurose aus.

 

Erste psychische Interpretationen: Janet und Freud
Das Trauma als psychisches Konzept thematisierte man erst an der Pariser Salpêtrière, im Kreis um Jean Martin Charcot (1825-1893), dem Mitbegründer der modernen Neurologie. Damals wurden auch die ersten therapeutischen Maßnahmen ergriffen (Hypnose). Charcots Konzept der traumatischen Hysterie (Charcot, 1887) wurde von seinen beiden Schülern Sigmund Freud (1856-1939) und Pierre Janet (1859-1947) ausgebaut (vgl. Breuer und Freud, 1895). Janet (1889) erfand den Begriff der Dissoziation für die Folgen einer Bewusstseinsüberforderung angesichts der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse. So schrieb er: „Die Erinnerung an eine traumatische Erfahr-ung wird oft nicht angemessen verarbeitet: Sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten.“
Hier kommt zum Ausdruck, dass Janet eine Beeinflussung sowohl körperlicher, wie auch psychischer Kategorien durch Dissoziation postulierte. Diese Auffassung wird aktuell wieder aufgegriffen und führte zu einem neuen Vorschlag der Kategorisierung dissoziativer Strörungen: einer Unterscheidung in psychoforme und somatoforme Dissoziation (Nijenhuis, 2006, S. 41).
Erst heute - über ein Jahrhundert nach Janets Tod - erkennt man  die Bedeutung der Dissoziation für psychische Traumatisierungen gebührend an. Janets herausragende Rolle für die Psychotrauma-tologie erfährt nunmehr die ihr zustehende Würdigung (vgl. Behring, 2006).

Freud entwickelte zwei Traumatheorien, die sich vor allem in der angenommenen Ursache für psychische Traumatisierungen unterscheiden. Zunächst verstand er Hysterie als „eine chronifizierte posttraumatische Störung nach Kindesmissbrauch“ (Streek-Fischer, 2006, S. 12). Freud nahm also ein reales und äußeres Ereignis im Sinne eines nervösen Schocks als traumatisierende Ursache an. Diese traumatische Erfahrung, die meist auf Verführungserlebnissen beruhen sollte, wirkte nach Freud wie ein Fremdkörper im Organismus. Im Laufe seiner weiteren Studien gelangte Freud aber schon wegen des statistisch unwahrscheinlich oft auftretenden Phänomens des Missbrauchs zu der Überzeugung, dass auch eine entsprechende (Wunsch)Phantasie als traumatisierender Auslöser fungieren konnte. Er ging davon aus, dass nicht die tatsächliche, sondern die vom Patienten psychisch erlebte Realität ausschlaggebend ist. Dabei gestand er Triebwunschkonflikten, Schuld-gefühlen u. a. inneren Motiven des Unbewusstseins die Fähigkeit zu, traumatisierend zu wirken. Seine dann weiter ausgearbeitete Triebtheorie ersetzte damit seine ursprüngliche Traumatheorie (vgl. Kutter, 2000, S. 21 ff.).

Therapeutisch verwendete Freud zunächst ebenfalls Hypnose als kathartische Behandlungs-methode: Wenn sich die hypnotisierten Patienten an die traumatisierten Ereignisse erinnerten und diese erneut durchlebten, verschwanden ihre Symptome. Inwieweit hier allein ein Suggestiveffekt ausschlaggebend war, bleibt fraglich. Später entwickelte Freud die Praxis des therapeutischen Gesprächs für seine Psychoanalyse (= Talking Cure): Reden als Erinnern und Katharsis.

 

Stressforschung
Der berühmte Stressforscher Selye (1907-1982) beschrieb als erster eine erhöhte Aktivität der Nebennierenrinde und damit einen erhöhten Glukokortikoidspiegel in Stresssituationen (Selye 1936, zit. nach Bering, 2005). Mit diesem Befund ergänzte er die ebenfalls herausragenden Ideen von Cannon (1871-1945) über die Notfallaktivierung des Nebennierenmarks durch das sympathische Nervensystem (ebd.). Bis heute sind diese Beobachtungen, die einmal in einer erhöhten Katecholaminausschüttung bzw. in einer erhöhten Konzentration der Hormone der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse bestehen, Grundbaustein biologischer Stresskonzepte.
Während Selye Stress noch als unspezifische, stereotype Reaktion des Körpers auf Stressreize ansah und in Alarmreaktion, Widerstandsphase und Erschöpfungsphase unterteilte (Adaptations-Syndrom), verweisen neuere Befunde auf differentielle physiologische Reaktionen bei unterschiedlichen Umweltsituationen (Weiner 1984, zit. nach Bering, 2005).
Henry und Stephens (1977) gingen einen Schritt weiter und postulierten zwei voneinander unabhängige Stressachsen, die beim Versuch, die Stresssituation aktiv unter Kontrolle zu bringen (SNS-System) bzw. bei Kontrollverlust (HPA-Achse) aktiviert werden. Die Autoren betonten bei den Reaktionen des Organimsus die Bedeutung unterschiedlicher physiologischer Prozesse und auslösender Emotionen,  durch die eine Unterscheidung der vermeintlich identischen Stressreaktionen sehr wohl möglich sei. Sie wiesen somit auf Zusammenhänge zwischen kognitiv-emotionalen Prozessen einerseits und physiologischen Reaktionen andererseits hin.
Lazarus und Folkmann (1984) erweiterten den Fokus und sahen in ihrem 'transaktionalen Stressmodell' eine bestimmte Subjekt-Umwelt-Beziehung vorliegen. In dieser werden an das Subjekt Anforderungen gestellt, die seine Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen (vgl. Krohne, 1997, S. 268). Eine Betrachtungsweise des Stressgeschehens, in der sich erste Elemente einer ökologisch-dialektischen Konzeption, wie sie später von Fischer und Riedesser (2003) formuliert wurde, erkennen lassen.

 

Traumatisierung im Kriegskontext und moderne psychodynamische Ansätze
In Folge der beiden Weltkriege brachte die Therapie traumatisierter Soldaten, Kriegs- und Holocaust-opfer sowie Heimatvertriebener und Vietnamveteranen weitere Erkenntnisse. Der Psychoanalytiker Abram Kardiner behandelte mit Freuds Talking Cure so genannte Kriegszitterer. Die geringen Erfolge führten bei ihm zu der Auffassung, dass die traumatische Neurose sich im Wesentlichen um eine Physioneurose darstellt. Heute geht die Interpretation eher dahin, „Physioneurose und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als zwei Seiten einer Medaille zu sehen, von denen die eine mehr die körperliche Problematik, die andere eher die psychischen Veränderungen benennt“ (Streek-Fischer, 2006, S. 16). Denn auf der anderen Seite hat gerade die Untersuchung von Extremtraumatisierten und dem „Überlebenden-Syndrom“ (Niederland, 1980) an KZ-Häftlingen ergeben, dass fast alle Patienten einheitlich auftretende psychische Beschwerden zeigen. Damit war der kausale Zusammenhang dieser Folgen mit den traumatisierenden Kriegserlebnissen bestätigt. Folglich konnten die früheren Argumentationen, Psychotraumata ausschließlich auf psychische oder biologische Veranlagung zurückzuführen, nicht länger bestehen. Das bedeutete auch, dass Freuds Traumatheorien ergänzt werden mussten, weil sie ja ursprünglich nur (reale oder phantasierte) traumatische Erlebnisse in der Kindheit als Krankheitsauslöser postulierten.

In Weiterentwicklung dieser klassischen psychoanalytischen Traumakonzeptionen, betrachtete Mardi Horowitz (1986) die traumatische Situation als „Informationstrauma“.  Moderne Erkenntnisse der Lern- und Gedächtnisforschung berücksichtigend, sah er die Haupteigenschaft einer trauma-bezogenen kognitiven Informationsverarbeitung in einer Vervollständigungstendenz des Bewusst-seins. Dieses, dem Individuum innewohnende Bedürfnis, neue Informationen in bereits verfügbare kognitiv-emotionale Schemata einzufügen und zu integrieren, findet beim traumatischen Erleben keine Erfüllung, da dieses zu einer Informationsüberlastung führt.



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