Mit ihrer ätiologischen Ausrichtung sucht die Kausale Psychotherapie – im Einklang mit dem Vorgehen der somatischen Medizin - die grundlegenden Bedingungen und Prozesse, die für die Entstehung einer psychischen Störung verantwortlich sind, zu erfassen und diese Erkenntnisse für die therapeutische Intervention nutzbar zu machen. 

Nosologische Pyramide
In der nosologischen Pyramide, die gleichsam das Kernelement der Kausalen Psychotherapie darstellt, werden die verschiedenen Komponenten der Krankheitslehre systematisch zusammengefasst (Fischer, 2007, S. 119 f.). Besonders bedeutsam ist die Einteilung in die drei Ebenen Symptomatologie, Pathogenese und Ätiologie. Hieran wird deutlich, dass Symptome lediglich die Spitze bzw. erst das Ende einer langen Krankheits(vor)geschichte sind. Ohne die Berücksichtigung der ursächlichen (ätiologischen) Faktoren mit ihrer spezifischen pathogenetischen Entwicklung kann therapeutische Behandlung nicht „kausal“ sein. Denn dasselbe Symptom kann auf verschiedene Ursachen zurückführbar sein.




Dementsprechend stellen rein symptomorientierte Diagnostik- und Therapiemanuale wie DSM IV einen unzuverlässigen Klassifizierungsansatz dar, mit denen seelische Prozesse nicht angemessen wiedergegeben werden können.
Nachdem die allgemeine Pathodynamik zuvor schon dargestellt wurde, folgt jetzt eine Kurzzusammenfassung der vier Ätiologien zusammen mit ihrer spezifischen Pathogenese.

Die vier Ätiologien
Kausale Psychotherapie geht davon aus, dass psychische Störungen auf mindestens eine von vier Ätiologien zurückgehen (Fischer, 2007, S. 121). Dabei handelt es sich um

  • Übersozialisation
  • Untersozialisiation
  • Biologische Faktoren
  • Psychotraumatische Einflüsse

Während Über- und Untersozialisation sowie psychotraumatische Einflüsse auf Umweltfaktoren basieren, beruhen biologische Faktoren auf erworbenen biologischen Veränderungen bzw. auf erbgenetischen Einflüssen – deren Entfaltung allerdings wiederum auch von der Umwelt abhängt.

Übersozialisation
Nach Fischer geht Übersozialisation auf einen „übermäßig strengen, rigiden und einengenden Erziehungsstil“ zurück. Er ist nicht nur in konservativ-autoritären Elternhäusern anzutreffen, sondern geht häufig auch mit einer modernen, aber stark leistungsorientierten Sozialisation einher. Die individuelle Besonderheit wird vom gesellschaftlich-normativen Allgemeinen zurückgedrängt und eingegrenzt. Die Folge sind in jedem Fall unterdrückte Triebwünsche und verdrängte vitale Impulse, die zur Entwicklung einer neurotischen Persönlichkeit führen können. Handlungstheoretisch entspricht diese Ätiologie der gehemmten Handlung.

Die Pathogenese kann hier nach dem klassischen psychodynamischen (Trieb)Wunsch/Abwehr-Modell beschrieben werden: Triebimpulse werden von der Abwehr zurückgedrängt und aus dem Gegeneinander dieser beiden Kräfte ergeben sich Symptome als Kompromissbildung.

Untersozialisation
Untersozialisierung beruht auf einem „Laissez-faire“-Erziehungsstil, der Kindern zu wenige oder zu einseitige Normen und Strukturen vorgibt. Durch Verwöhnen und/oder Verwahrlosen wird es Kindern erlaubt, ihre individuelle Besonderheit jederzeit über soziale Normen (das Allgemeine) zu stellen. In der Konsequenz fehlt es ihnen an Empathie und an Verständnis für Normen einerseits und der Wechselseitigkeit sozialer Beziehungen andererseits (= Kern des kommunikativen Realitätsprinzips). Untersozialisierte Kinder weisen in der Regel ein Lerndefizit in Bezug auf soziale Fertigkeiten auf. Kommen weitere belastende Umstände hinzu, kann sich daraus z. B. auch eine antisoziale Persönlichkeit entwickeln. Handlungstheoretisch entspricht diese Ätiologie der enthemmten Handlung.

Die Pathogenese aus dem Kontext der Untersozialisierung ergibt sich meist aus der gespaltenen Polarität zwischen Sein und Handeln. Ungenügend sozialisierte Individuen leiten ihr Selbstverständnis weniger aus eigenen Handlungen, als vielmehr aus Seinskategorien wie familiäre, nationale, religiöse oder ethnische Herkunft, Religion o. Ä. ab. Auf Grund der Bevorzugung, die sie durch ihr Umfeld als Kind erfahren haben, entwickeln sie das Selbstverständnis im Vergleich zu anderen grundsätzlich „etwas Besseres“ zu sein. Diese Aufwertung gerät in Konflikt mit sozialen Regelsystemen, besonders wenn diese inkonsistent angewandt werden.

Biologische Faktoren
Hierzu zählen sowohl biologisch angeborene als auch biologisch erworbene Faktoren. Sie sind nicht nur wirksam im Sinne einer eigenständigen ätiologischen Kategorie, sondern auch im Zusammenspiel mit den drei anderen Ätiologien. Dies trifft insbesondere für die Psychotraumatologie zu und fließt daher in deren Darstellung mit ein. In diesem Sinne wird die biologische Ätiologie zur psychosomatischen Perspektive erweitert. Dabei ist zu beachten, dass sich genetische Dispositionen einerseits als Anlage mit den anderen Ätiologien verbinden, auf der anderen Seite aber auch erst als Folge verschiedener ätiologischer Bedingungen erworben werden. So kann z. B. eine Dysregulation des Serotoninhaushalts auf Grund einer frühkindlichen Deprivation zur Disposition für spätere Depressionen werden. Ebenso gehören zentralnervöse, neuromuskuläre und -vegetative Veränderungen in Folge eines Traumas zu den biologisch erworbenen Faktoren.

Die ätiologisch relevanten biologischen Einflüsse sind so zahlreich und vielfältig, dass es keine einheitliche Pathogenese gibt. Die Darstellung der biologischen Pathogenese in der Abbildung der ätiologischen Pyramide ist damit idealtypisch zu verstehen.

Psychotraumatische Einflüsse
Entsprechend der aktuellen Forschungslage sind psychotraumatische Einflüsse als eigenständige ätiologische Kategorie zu begreifen, aus der sich neben der Posttraumatischen Belastungsstörung noch eine Reihe anderer psychischer und/oder somatischer Störungen entwickeln können (= Traumaspektrum). Dazu gehören etwa depressive, dissoziative, somatoforme Störungen und Borderline-Störungen. Handlungstheoretisch ist diese Ätiologie als unterbrochene Handlung zu verstehen.

Um die spezifische Pathogenese zu verstehen, die sich aus der traumatischen Ätiologie entwickelt, seien hier im Vorgriff auf die Ausführungen zur Traumatologie die zentralen Konzepte Traumaschema (TS) und Traumakompensatorisches Schema (TKS) erklärt.

Das Traumaschema (TS) ist ein „in der traumatischen Situation aktiviertes Wahrnehmungs-/Handlungsschema, das im Sinne von Trauma als einem unterbrochenen Handlungsansatz mit Kampf- bzw. Fluchttendenz die traumatische Erfahrung im Gedächtnis speichert.“ (Fischer und Riedesser, 2003, S. 375). Selbst wenn diese Erinnerung nicht mehr bewusst zugänglich ist, bleibt eine Wiederaufnahmetendenz der unterbrochenen Handlung im Sinne des Situationskreises bestehen, so dass die traumatische Erfahrung im Organismus virulent ist.

Unter dem Traumakompensatorischen Schema (TKS) versteht man die individuellen Maßnahmen und Strategien, um ein Trauma zu kompensieren. Es beinhaltet neben dem Kontrollstil der Persönlichkeit drei Aspekte, die von den Betroffenen als eigene, naive Erklärungs- und Vorsorgeversuche für das Geschehene entwickelt werden:

  • Ätiologischer Aspekt:                   Was war die Ursache des Ereignisses?
  • Präventiver Aspekt:                     Wie lässt sich eine Wiederholung vermeiden?
  • Reparativer Aspekt:                     Wodurch ist die seelische Verletzung heilbar?

Die entsprechende Pathogenese ergibt sich aus der Dynamik von Traumaschema und Trauma-kompensatorischem Schema (siehe Abbildung B7). Ähnlich wie im Zusammenspiel von (Trieb)Wunsch und Abwehr wirken auch hier beide Kräfte gegeneinander. Aus der Kompromissbildung entstehen die Symptome.


Ätiologramm – Ätiologische Überschneidungen
In den meisten Fällen lässt sich eine der vier Ätiologien als dominant erkennen. Sie bestimmt die Ausrichtung der weiteren therapeutischen Maßnahmen im Rahmen der kausalen Psychotherapie. Von dieser Haupttendenz abgesehen kommt es außerdem zu mehr oder weniger großen Überschneidungen zwischen den Ätiologien, welche die Komplexität möglicher Krankheitsursachen und -pathogenesen dokumentieren.

 

Die wichtigsten ätiologischen Überschneidungen spezifiziert Fischer wie folgt:

Ätiologie

Kindheit

Jugend

Erwachsenenalter

 A
 Psychotraumatisch

   Ablehnung, negative    Bindung, schwere    Personenverluste,    Gewalterfahrungen,        „Beziehungstraumata“

   Unfälle,    Katastrophen,    Gewalterfahrungen

   Unfälle, (berufliche)    Katastrophen,    Gewalterfahrungen

 A-C
 Psychotraumatisch- 
 Biologisch

   Fehlregulation des    Serotoninhaushalts,    Verminderung der    Neurogenese

   Neuromuskuläre    Verspannungszustände,    Schädigung ana-    tomischer Strukturen

   Neuromuskuläre    Verspannungszustände    Schädigung ana-    tomischer Strukturen

 A-B
 Psychotraumatisch-
 Übersozialisation

   Gewaltförmige    Erziehungsmethoden,    kulturell legitimierte „    Verstümmelung“

   Gewaltförmige    Erziehung, grausame    Initiationsrituale

   Totalitäre politische    Verhältnisse

 B
 Übersozialisation

   Normativ rigide    Erziehung

   Überausgeprägte,    konventionelle    Normorientierung,    Leistung um der    Leistung willen,    weltanschaulich starr

   Einengung und    Hemmung vitaler    Impulse durch    verinnerlichte Normen    („gnadenloses“ Über-    Ich)

 B-D
 Übersialisation-
 Untersozialisation

   Wechsel von Strenge    und Verwöhnung

   Probleme der moralischen    Wertorientierung

   Inkonsistentes,    willkürliches Verhalten,    Double-Binds

 B-C
 Übersozialisation-
 Biologisch

   Fehlkodierung von    Vitalfunktionen und    Körpererleben

   Störungen der    psychosexuellen    Entwicklung und    Identitätsbildung

   Psychosomatische    Störungen nach dem    Modell der gehemmten    Handlung

 C a
 Biologisch-erworben

   Neurohormonelle    Dysregulation,    Neurogeneseabfall

   Defizite der    Affektregulation

   Affektive    Störungsmuster

 C b
 Biologisch-angeboren

   Konstitution, vererbte    Krankheiten 

   Manifestationsstadien    der Erkrankung

 

 C-D
 Biologisch-
 Untersozialisation

   Defizite der    Intelligenzentwicklung,    der Affekt- und    Verhaltensregulation

   Trias von Impulsivität,    Unerreichbarkeit für    Erziehungsmaßnahmen,    fehlende    Angstentwicklung  

   „Hypofrontalität“ und    „enthemmte Handlung“

 D
 Untersozialisation

   Inkonsistente Regeln

   Dissoziales,    unempathisches    Verhalten

   Regelwidriges,    dissoziales,    egozentrisches u./o.    egoistisches Verhalten

 D-A 
 Untersozialisation-
 Psychotraumatisch
 

   Vernachlässigung,    Verwahrlosung,    Misshandlung,    Missbrauch

   Desorientierte    Adoleszenz  bzw.    negative Identität

   Forensische Karrieren,
   transgenerationale    Weitergabe



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