Psychotherapie leitet sich aus der Psychologie ab, die ihrerseits auf Empirie und Philosophie basiert. Von diesen beiden Wurzeln wird das naturwissenschaftlich-experimentelle Vorgehen heute nach Fischers Ansicht zu stark betont. Die kausale Psychotherapie will deshalb Natur- und Geisteswissenschaft wieder ins Gleichgewicht bringen und setzt deshalb besonders auf qualitative Methoden und eine philosophische Fundierung ihrer Theorie (Fischer, 2007, S. 17). Es geht Fischer weniger um eine reine Methodenkritik, als vielmehr um das Selbstverständnis der Psychologie als Wissenschaft überhaupt.
Für ein besseres allgemeines Verständnis soll im Folgenden die Dialektik als Begriff der Philosophie skizziert werden (vgl. Mittelstraß, 1999, S. 108-110). Doch zuvor gilt es diesen in übergeordnete Zusammenhänge einzufügen.



Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Polarisierung der Wissenschaften. Es war vor allem Wilhelm Dilthey (1833-1911) der dem naturwissenschaftlichen Wissenschafts-verständnis ein geisteswissenschaftliches entgegensetze. Nach Dilthey sind die Geisteswissenschaften verstehender Natur, die Naturwissenschaften dagegen quantifizierend-erklärender Art (vgl. Walach, 2006, S. 333). Im Rahmen geisteswissen-schaftlicher Fragestellungen wird der Mensch nicht nur als biologischer Organismus wahrgenommen, sondern zugleich als je einzigartiges Ergebnis einer individuellen Lern- und Erfahrungsgeschichte angesehen. Im Rahmen seiner biologischen Möglichkeiten konstruiert der Mensch nicht nur Wirklichkeit (Uexküll, 2002, S. 7), sondern schafft, diese Wirklichkeit interpretierend, auch eine Sinn- und Wertewelt. Durch diese von ihm geschaffene Welt der Bedeutungen und Zuschreibungen bewegt er sich und lässt dabei Biologisches mit Sozial-kulturellem verschmelzen. Wo die Naturwissenschaften nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und kausalen (Ursache und Wirkung) Zusammenhängen  suchen, um zu Resultaten zu gelangen, da befasst sich Geisteswissenschaft mit geschichtlichen,  anthropologischen Grundstrukturen (vgl. Ruffing, 2005, S. 86). Sie hat qualitative Momente zum Inhalt, wie etwa die Klärung von Ziel-, Wert- und Sinnfragen, und sucht somit nach Sinn-Zusammenhängen (vgl. Danner, 2006). Wo die Naturwissenschaften messen, zählen, wiegen (quantitative Methoden) und „beweisen“, da können die Geisteswissenschaften hinschauen, beschreiben, deuten und „verstehen“ (Ruffing, 2005). Es ist letztlich die Unterscheidung von ganzheit­lichem Nachvollzug auf der einen Seite und analytisch-reduktionistischem Vorgehen auf der anderen Seite.

Mit ihren je eigenen Forschungsmethoden repräsentieren diese beiden Wissenschafts-formen  unterschiedliche Wege der Erkenntnisgewinnung. In den letzten Jahrzehnten hat sich in der psychologischen bzw. psychiatrisch-psychotherapeutischen Forschung weitgehend der Aufbau naturwissenschaftlich-empirischer Modelle durchgesetzt, während die „verstehenden“ und „sinn-orientierten“ Methoden zurückgedrängt wurden. Der Geisteswissenschaft wird vielfach gar die Wissenschaftlichkeit abgesprochen (vgl. Danner, 2006). Mit Fischer kann sie dagegen als Wissenschaft anderer Art aufgefasst werden.

Dabei werden als klassische Methoden  geisteswissenschaftlicher Forschung Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik angesehen. Mit Danner (2006) können diese drei wie folgt (schematisch und idealtypisch vereinfacht) in einen Zusammenhang gebracht werden:

  • Phänomenologie als beschreibende Bestandsaufnahme, die darauf abzielt das Wesen einer Sache oder eines Sachverhalts zu erfassen.
  • Hermeneutik als Verstehen und Auslegen des beschriebenen Bestandes.
  • Dialektik als weiterführende Reflexion über den beschriebenen und verstandenen Bestand.

 


Versucht man eine übergreifende Definition für den facettenreichen Begriff der Dialektik zu finden, so ließe sie sich als „das philosophische Bemühen um Nachweis und Überwindung von Widersprüchen im Denken und Sein“ (Regensburger und Meyer, 1998, S. 146) bezeichnen.

Die griechischen Philosophen der Antike verstanden den Begriff der Dialektik in seiner wörtlichen Bedeutung – als Kunst der Gesprächsführung. In diesem Sinne ist Dialektik vor allem eine Form der Argumentation und Beweisführung, somit der Rhetorik und Logik ähnlich. Schon Platon betonte allerdings, dass die Dialektik nicht einfach auf die Widerlegung anderer Meinungen ziele (wie es die zeitgenössischen Sophisten anstrebten), zentral sei vielmehr der Erkenntnisgewinn.

Im Laufe der weiteren Philosophiegeschichte hat sich das Verständnis des Dialektikbegriffs häufig und grundlegend verändert, so dass hier nicht alle Interpretationslinien nachgezeichnet werden. Für das dialektische Verständnis der kausalen Psychotherapie ist der Ansatz Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770-1831) maßgeblich. Ihm wird häufig der dialektische Dreischritt aus These, Antithese und Synthese zugeschrieben, obwohl dieser nicht nur inhaltlich auf Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) zurückgeht, sondern auch von Hegel als rein schematische und oberflächliche Methode abgelehnt wurde (Fischer, 2000).

In ähnlicher Weise orientiert sich auch die kausale Psychotherapie nicht an einer naiven, sondern an einer wissenschaftlichen Dialektik (Fischer, 2005). Bei der Verwendung eines einfachen These-Antithese-Synthese-Schemas kann der Ausgangspunkt willkürlich gewählt, eine Gegenposition (Antithese) gefunden und darum immer eine Synthese im Sinne eines Kompromisses oder Mittelweges gefunden werden. Tatsächlich funktioniert Symptombildung in Freuds Verständnis genau nach diesem Prinzip: Das Symptom ist ein solcher, schlecht funktionierender Kompromiss zwischen Trieb und Abwehr und stellt eine verfrühte und erzwungene, aber keine übergeordnete Einheit der widersprüchlichen Bestrebungen dar.
Demgegenüber folgt eine kritische, wissenschaftliche Dialektik, wie sie in der kausalen Psychotherapie zum Einsatz kommt, Hegels dialektischem Gesetz von der Negation der Negation.


Negation der Negation nach Hegel

Im Gegensatz zu einer beliebigen These ist ihr Ausgangspunkt nicht frei wählbar, sondern insofern notwendig, als sie an eine „Aufspaltung von Gegensätzen, die eigentlich eine Polarität mit kontinuierlichen Zwischenstufen bilden“ (Fischer, 2000, S. 38), anschließt. Etwas ursprünglich Ganzes wurde dabei in zwei isolierte Gegensätze aufgeteilt, so dass nur noch die Unterschiede, aber nicht mehr die Gemeinsamkeiten sichtbar sind. (Beispiel: Nähe vs. Distanz als aufgespaltene Beziehungspolarität). Eine solche Trennung in zwei Extreme oder Widersprüche stellt eine Negation (= Verneinung, Unterscheidung) der eigentlichen Ganzheit dar; eine zusammengehörige Dimension wird zum künstlichen Dualismus.

Die Negation der Negation löst nun diese Unterscheidung und Widersprüchlichkeit auf, indem sie eine vermittelnde Einheit schafft, die beide Seiten wieder verbindet. Dabei ist die Negation der Negation nicht einfach eine doppelte Verneinung, weil sie im Ergebnis zu einer inhaltlichen Veränderung der ursprünglichen Kategorien führt. Sie erzeugt etwas Neues, das das Alte auf einer qualitativ höheren Stufe (Metaebene) in sich integriert – es ist darin im dreifachen Sinne aufgehoben.

 

Dialektische Aufhebung
Hegels Begriff der dialektischen Aufhebung vereint in sich drei verschiedene Bedeutungen (Fischer, 2007). Wie im normalen Sprachgebrauch versteht Hegel den Begriff des Aufhebens in drei unterschiedlichen Bedeutungen, und zwar aufheben im Sinne von

  • hochheben, auf eine höhere Stufe bringen (elevare)
  • bewahren (conservare)
  • abschaffen, wegnehmen (tollere/eliminare)

Die Negation der Negation führt also zu einer Metaebene, die sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten der vormals getrennten Pole enthält und damit deren Verbindung wiederherstellt. Jeder der ursprünglichen Gegensätze ist nun er selbst, aber gleichzeitig auch sein Gegenteil. Daher kann man dieses Stadium mit Fischers Anlehnung an Hegel auch als „Einheit von Einheit und Differenz“ (ebd., S. 43) bezeichnen.

Im Weiteren geschieht die dialektische Entwicklung als „systematische Folge kognitiver Stufenübergänge“ (Fischer, 2000, S. 12), die spiralförmig ein immer höheres Erkenntnisni-veau erreicht.

Diese Dialektik wird in Abgrenzung zur positiven Dialektik von These-Antithese-Synthese negative Dialektik genannt, weil sie „dem Prinzip der selbstrückbezüglichen Negation (Negation der Negation)“ (ebd., S. 33) folgt. Der Begriff der negativen Dialektik ist allerdings erst durch Theodor W. Adornos (1903-1969) gleichnamiges Hauptwerk bekannt geworden, das Hegels Ansatz z. T. als totalitär kritisiert (Adorno, 1966) . Denn die Hegelsche Dialektik denkt in Ganzheiten oder geschlossenen Systemen und behauptet, umfassende Kenntnis der Wirklichkeit haben zu können. In Abgrenzung zu dieser Vorstellung spricht man daher auch von einer „offenen Dialektik“ (Waldenfels, 1980, S. 126). Dieser sinnvollen Erweiterung schließt sich auch die kausale Psychotherapie an, indem sie „Dialektik als Entwicklungslogik beweglicher, zukunftsoffener Systeme“ (Fischer, 2000) begreift.

 

Dialektische Logik
In der formalen Logik gilt der Satz vom ausgeschlossen Dritten (Tertium non datur) (vgl. Fischer, 2000, S. 43 ff.). Demnach ist alles Seiende entweder es selbst oder etwas anderes (A oder non-A). Es kann nicht gleichzeitig A und in derselben Hinsicht non-A sein. Damit lässt sich jede Aussage als wahr oder falsch klassifizieren (Zweiwertigkeitsprinzip). Entgegengesetzte Aussagen können folglich nicht gleichzeitig wahr sein.

d

Mit dialektischer Logik lässt sich der Satz vom ausgeschlossenen Dritten dennoch negieren: Es gibt tatsächlich etwas, das sowohl A als auch non-A ist bzw. weder A noch non-A, zum Beispiel die gemeinsame Grenzlinie zweier benachbarter Länder. Diese Aussage steht offensichtlich im Widerspruch zum Satz vom ausgeschlossenen Dritten, ist aber dennoch wahr im Sinne einer höheren Logik – eben der dialektischen Logik (ebd., S. 45). Eine solche bleibt nicht bei der Polarität von A und non-A stehen, sondern integriert beide Pole in der „Einheit ihrer Einheit und Differenz“ als einer Metaposition (ebd.). Diese beinhaltet einerseits das Verbindende der Polaritäten (auch Konfinalität genannt) und andererseits das Trennende (absolute Grenze). Diese Einheit der Gegensätze ist kein statischer Zustand, sondern vielmehr durch ständige Bewegung gekennzeichnet, weil A und non-A fortlaufend ineinander übergehen bzw. übergegangen sind. Diese Art der Einheit kann auch als Prinzip „dialektischer Selbstregulation“ (ebd., S. 66) interpretiert und mit Hilfe des mathematischen Unendlichkeitszeichens veranschaulicht werden:

d

Kommt es im Rahmen ätiologischer Einflussfaktoren zur Aufspaltung der Einheit, so ergibt sich folgendes Bild:


 

Dialektische Logik hebt künstliche Spaltungen auf, indem sie die innere Verbindung zwischen scheinbaren Gegensätzen herausarbeitet. Dieses Vorgehen wird auch  Dekonstruktion genannt, da es um Abbau und Zerlegung eines konstruierten Gegensatzes geht. Zusammengefasst entfaltet sich wissenschaftliche Dialektik gemäß Fischer (2000) in folgenden Stadien:





 

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