Kausale Psychotherapie erachtet es als wichtig, nicht nur bewusste, „kognitive“ Vorgänge, die sich sprachlich ausdrücken lassen, zu berücksichtigen, sondern auch tiefer liegende, zum Teil unbewusste Kommunikationsprozesse einzubeziehen, die sich auf der körperlich-biologischen Empfindungs- und Ausdrucksebene abspielen. Im Einklang mit Ansätzen der „Integrierten Medizin“ (Uexküll et al., 2003) betont Fischer zum Verständnis dieser Phänomene die Bedeutung der Zeichenlehre oder Semiotik. Für sie sind die Farben und Formen, die wir sehen, die Klänge, die wir hören, Temperaturen, die wir fühlen oder Stoffe, die wir aufnehmen, Zeichen. Diese erhalten eine Bedeutung. Der Prozess der Bedeutungserteilung wiederum ist nicht nur vitale Grundlage von Kommunikation überhaupt, vielmehr erweitert er – bei der Frage nach dem Verhältnis von Organismus und Außenwelt - das zweigliedrige (mechanistische) Denkmodell eines einfachen Ursache-Wirkungs-Gefüges (ein Reiz führt zu einer genau definierten und immer gleichen Reaktion) hin zu einem dreigliedrigen Denkmodell oder besser: zum Modell eines dreigliedrigen Zeichenprozesses (vgl. Uexküll et al., 2003, S. 8). Das dritte Glied, das sich gleichsam zwischen Ursache und Wirkung schiebt, entsteht durch die Interpretation der Zeichen, mithin durch die Bedeutungserteilung.
Vor einer weiteren Ausführung soll die Biosemiotik zunächst in ihrer historischen Entwicklung skizziert werden.

Semiotik ist die „Theorie und Lehre von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen und Zeichenprozessen, in deren Zentrum die Erforschung natürlicher Sprache als umfassendstem Zeichensystem steht“ (Bußmann, 1980, S. 679). Als nonverbale Kommunikationsformen gehören z. B. Körpersprache, Gesichtsausdruck oder auch Körperempfinden zum Forschungsgegenstand. Die Bedeutung von Zeichen zu analysieren wurde lange allein als Aufgabe der Sprachwissenschaft verstanden, obwohl Semiotik schon in der Spätantike als Teilgebiet der Medizin, nämlich als die Deutung von Krankheitsanzeichen galt (vgl. Nöth, 2000, S. 2).

An diese Tradition knüpft daher die junge Richtung der Biosemiotik an, die Zeichenprozesse auf biologischer Ebene betrachtet, u. a. die evolutionäre Entwicklung solcher Zeichensysteme, die Informationsübertragung zwischen verschiedenen Lebewesen oder innerhalb eines Organismus’, etwa zwischen Organen oder Biomolekülen. Beispielsweise funktionieren „zeichenvermittelte Informationsprozesse zwischen Organen und Gewebe über Botenstoffe“ (Finke und Müller, 1997, S. 136).

Die Biosemiotik beschränkt sich somit nicht auf die Analyse psychischer Prozesse. Vielmehr werden alle Lebensvorgänge als Prozesse der Zeichenbildung und Zeichenkommunikation angesehen.
Wenn die Psychoanalyse z.B. vom Unbewussten, vom Bewussten, vom Ich oder vom Es spricht, um Teile des Psychischen zu beschreiben, so treten im biosemiotischen Modell unterschiedliche Zeichenklassen an diese Stelle. Ihre Beschreibung geht auf die von Charles Sanders Peirce entwickelte Einteilung zurück.

Die Zeichentheorie nach Peirce
Der amerikanische Naturwissenschaftler und Philosoph Charles S. Peirce (1839-1914) entwickelte zusammen mit William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1952) den Pragmatismus und ist neben Charles Morris außerdem Begründer der amerikanischen Semiotik (vgl. zu diesen Ausführungen Pape, 1993, S. 64-67; Willaschek, 2004, 539 ff.).

Das triadische Zeichenmodell nach Peirce
Peirce entwickelte ein triadisches Zeichenmodell, das aus den drei Elementen Zeichen, Objekt und Interpretant besteht. Ihre Verbindung beschreibt den Interpretationsprozess eines Zeichens. Peirce definiert diesen Prozess, bei dem ein Zeichen eine bestimmte Kognition eines Interpreten anspricht, als Semiose.

Ein Zeichen im engeren Sinne ist das, was für etwas anderes steht, es mithin repräsentiert. Dieses gilt es streng vom Zeichenträger zu unterscheiden. Die Stimme „trägt“ die Melodie, ist mit ihr jedoch nicht identisch. Entstammt der Zeichenträger typischerweise der physiko-chemischen Wirklichkeitsebene, so finden sich die Zeichen meist auf der biologischen oder psycho-sozialen Ebene. Eine Gleichsetzung von psychischen Prozessen mit der sie „tragenden“ neuronalen Aktivität wird in diesem Kontext als Kategorisierungsfehler angesehen (Fischer, 2007).

Das Objekt stellt den Bezugspunkt für das Zeichen dar. Es wird von ihm repräsentiert. Dabei muss es sich nicht unbedingt um einen Gegenstand oder überhaupt etwas Materielles handeln. Vielmehr kann es auch ein gedankliches Konstrukt, eine Idee oder Vorstellung sein.

Beim Interpretant geht es um die Bedeutung des Zeichens. Gemeint ist jedoch kein allgemeiner Sinn, sondern die besondere Kognition, die beim Interpreten durch das Zeichen ausgelöst wird. Dies entspricht der Bedeutungserteilung im Situationskreis und stellt die elementare Zuordnungsfunktion selbst dar, die das Zeichen erst zum Zeichen macht (Fischer, 2007). Das Wort Hund beispielsweise kann bei verschiedenen Interpreten (= das interpretierende Subjekt) ganz unterschiedliche Assoziationen wecken. Denn jeder besitzt auf Grund seiner eigenen Erfahrungen mit Hunden andere Kognitionen zum Begriff „Hund“.

Die drei Zeichentypen nach Peirce
Peirce unterscheidet drei Zeichenarten:

Ikon (Ähnlichkeit)
Ein ikonisches Zeichen besitzt Ähnlichkeit zu seinem Bezugsobjekt, zu dem eine physikalische Beziehung besteht: Beispiele: Bilder, Grafiken, Lautmalerei.

Index (Anzeichen)
Ein indexikalisches Zeichen besitzt eine Zeigefunktion, mit der es auf ein Referenzobjekt verweist. Es kann daher auch als Anzeichen oder Hinweis verstanden werden. Beispiel: Rauch als indexikalisches Zeichen für Feuer.

Symbol (Konvention)
Ein Symbol basiert auf einer willkürlichen, das heißt konventionellen Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, die ansonsten keine Beziehung zueinander haben (Beispiel: Sprache).
Uexküll und Wesiack (2003) bringen diese semiotische Perspektive mit lebenden Organismen auf drei natürlichen Systemebenen in Verbindung:

Ikonische Ebene: Das Vegetative (Pflanze)
Vegetation als Pflanzenwelt, aber auch das vegetative Nervensystem des Menschen sind durch das Ikonische bestimmt. Die Beziehung von Pflanzen und Umgebung ist in semiotischer Hinsicht durch ikonische Zeichen geprägt, welche die Umgebungsqualität (Temperatur, Nährstoffe etc.) wiedergeben. Da die Pflanze unbeweglich ist, muss sie warten, bis sich die Umgebung an ihre Bedürfnisse anpasst. In der Pflanzenwelt besteht also zwischen den äußeren Zeichen (Sonnenlicht, Temperatur) und den inneren biologischen Vorgängen (Photosynthese) eine natürliche, physikalische Beziehung. Im vegetativen Nervensystem des Menschen gilt eine vergleichbare Semiotik.

Indexikalische Ebene: Das Animalische (Tier)
Die Bedeutung des lateinischen Begriffs anima als Seele steht in diesem Zusammenhang für die Befähigung lebender Organismen, ihre Umwelt zum Lebensraum zu gestalten. Tiere können auf Grund ihrer Bewegungsfähigkeit selbst aktiv werden und nutzen bestimmte Anzeichen wie Gerüche, Spuren etc., um Beute oder Partner zu finden. Für diese semiotische Ebene sind demnach motorische Beweglichkeit und Handeln charakteristisch. Die indexikalische Ebene entspricht damit dem auf Bewegung beruhenden Orientierungssinn des Tieres und dem neuromuskulären System beim Menschen – im weitesten Sinne also der Handlungsebene.

Symbolische Ebene – Das Menschliche
Die genuin menschlichen Eigenschaften Denken und Sprechen sind untrennbar mit symbolischen Konstrukten verbunden. Alle Sprachen und Gedankenwelten stellen symbolische Zeichensysteme dar. Mit Metaphern, d. h. sprachlichen Bildern, oder paraverbaler Kommunikation durch Gestik, Mimik etc. kehren aber auch innerhalb der symbolischen Sprachebene ikonische bzw. indexikalische Elemente wieder, die Zeichen eines integrierten Sprechens sind.

 

Die drei Universalkategorien nach Peirce
Die zeichentheoretischen Elemente Ikon, Index und Symbol lassen sich auch auf  eine andere begriffliche Triade von Peirce übertragen – seine drei Universalkategorien. Beide zusammen beschreiben verschiedene Ebenen menschlichen Erlebens und Kommunizierens.

Erstheit ist monadisches Sein ohne Bezug auf etwas anderes, das sich u a. als unmittelbar, spontan, unreflektiert, frei und als Potenzial beschreiben lässt. Zu dieser Kategorie zählt das Ikon. Das erste und ikonische Erleben ist geprägt von grundlegenden körperlichen Erfahrungen: Hunger, Durst, Schmerz, Lustempfinden, Affekte, Triebe etc. (vgl. Plassmann und Schütz, 2002, S. 113 ff.). Es handelt sich also um basale körperbezogene Erfahrungen, für die wenig sprachliche Mittel zur Verfügung stehen.

Zweitheit ergibt sich aus einem dyadischen Bezug. Sie entsteht erst in der Beziehung von einem Ersten und einem Zweiten. Das bloß Potenzielle der ersten Kategorie verwandelt sich dabei in faktische Realität – in Handlung und Erfahrung. Das indexikalische Zeichen gehört als Anzeichen von etwas zu dieser Kategorie. Es geht also immer um die Verbindung von zwei Zeichen und damit um Kausalitätsbeziehungen und Einflussmöglichkeiten. Manipulationsversuche sowie Ursache und Wirkung sind daher eng mit der Entwicklung sensomotorischer Kompetenz zu verbinden. Gestischer Ausdruck ist z. B. eine typisch indexikalische Äußerung.

Drittheit schließlich resultiert aus dem Bezug eines Zweiten zu einem Dritten. Es ist u. a. die Kategorie der Vermittlung und des Allgemein-Gesetzmäßigen. Hier ist das Symbol einzuordnen, weil es auf Konvention beruht und jedes Wort schone eine Abstraktion ist. Diese sprachlich-symbolische Ebene steht demnach in enger Verbindung zu den inneren Repräsentationen eines Menschen, besonders zu seinem autobiografischen Gedächtnis. Ein starkes Gefühl, das körperlich empfunden (ikonisch) und durch Körpersprache ausgedrückt (indexikalisch) wurde, kann auf dieser Ebene auch sprachlich mitgeteilt werden.

Nach dem Verständnis der Biosemiotik wird die menschliche Entwicklung als Prozess der Integration angesehen. Dabei verbinden sich die Elemente aller drei Zeichenklassen (ikonisch, indexikalisch und symbolisch) zu einer vollständigen subjektiven Wirklichkeit (vgl. Fischer, 2007). Nur wenn alle Ebenen zur Verfügung stehen, ein oszillieren zwischen ihnen und ihre Verknüfung („vertikale Integration“) möglich sind, kann von „gesunder“ Integration gesprochen werden. Traumatische Erfahrungen können diese Integration stören. So können einzelne Erlebnisse vom Denken bzw. der Symbolisierung ausgeschlossen werden, da der intersemiotische Übersetzungsprozess blockiert wurde.

Deshalb ist es in der Therapie wichtig, alle drei Aspekte einzubinden. Eine Integration der drei Ebenen lässt sich etwa dadurch erreichen, dass eine am therapeutischen Gespräch (symbolisch-sprachliche Ebene) orientierte Psychotherapie ergänzt wird mit Visualisierungsübungen (ikonisch-vegetative Ebene) und Verhaltenstrainings (indexikalische/Handlungsebene). Die Regel „N + 1“ gilt dabei als Leitlinie des technischen Vorgehens. D.h. von „N“, der Ebene, auf der sich die Störung überwiegend manifestiert, ausgehend, gilt es auf der nächst höheren Ebene („Metastufe von N“ oder „N + 1“) zu arbeiten. Fischer empfiehlt ein Pendeln zwischen „N“ und „N+1“.

Ferner überträgt Fischer (2007) die Kategorien der Biosemiotik auf die Stadien der psychosexuellen Entwicklung im Freudschen Sinne. Dabei entspricht die orale Phase des kindlichen Erlebens von Einssein mit der Welt der Erstheit nach Peirce. Die anale Phase ist gekennzeichnet durch grundlegende Trennungserfahrungen (v. a. Trennung vom eigenen Kot) und kann deshalb mit der Zweitheit verbunden werden. Die Kategorie der Drittheit wird dann in der triangulären Beziehung Vater-Mutter-Kind in der ödipalen Phase verwirklicht.

Die Entsprechungen aller Aspekte lassen sich in einer Übersicht darstellen:

  Zeichentyp (Peirce)

Ikon

Index

Symbol

  Kategorie
  (Peirce)

Erstheit

Zweitheit

Drittheit

  Entwicklung (Freud)

Oral

Anal

Ödipal/genitl

  Systemebene   (Uexküll)

Pflanze

Tier

Mensch

  Humane   Ausdrucksebene      (Uexküll)

Vegetatives
Nervensystem

Neuromuskuläres System/
Handeln

Sprache

 

 

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