Mehr-Ebenen-Ansatz der Wirklichkeit
Der kausalen Psychotherapie liegt ein reflektierter Umgang mit den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit zugrunde (Fischer, 2007). Untersucht man ein seelisches Phänomen, sind damit auch immer die Besonderheiten des psychischen Systems zu berücksichtigen. Denn das Psychische stellt wie auch das biologische und physikalische System eigene Wirklichkeitsebenen dar, die ihre besonderen Funktionsprinzipien besitzen. Diese unterschiedlichen Prinzipien lassen sich am Begriff der Norm nachvollziehen.
Eine Norm soll in unserem Verständnis das gesunde Funktionieren eines Organismus’ definieren – das Abnormale stellt dementsprechend eine krankhafte Abweichung davon dar. Man unterscheidet drei Arten von Normen:

  • Funktionelle oder strukturelle Normen
  • Statistische Normen
  • Idealnormen

Die biologische Selbstregulierung des Körpers beruht vor allem auf funktionellen und statistischen Normen, bei denen der aktuelle Ist-Zustand mit einem vorgegebenen Sollwert verglichen wird (Beispiel: Blutdruckregulierung). Während bei den funktionellen Normen dabei ein naturgesetzlicher oder funktionaler Sollwert zugrunde liegt, werden statistische Normen z. B. als Abweichung vom statistischen Mittelwert einer Verteilung angegeben – sie basieren also auf gesetzten Sollwerten. Im Gegensatz dazu stellen Individuen Idealnormen selbst auf, die daher ein Charakteristikum der psycho-sozialen Wirklichkeitsebene bilden. Die Verhaltensregeln in einer Gesellschaft sind ein Beispiel für Idealnormen. Sie lassen sich als kulturabhängig, individuell, wandelbar und damit potenziell dysfunktional beschreiben. Ein solches Fehlverhalten entsteht, wenn entweder die Ziele irrational sind, die mit einer Idealnorm verfolgt werden oder die Mittel zur Zielerreichung unangemessen bleiben (Beispiel: Waschzwang).
Die höheren Ebenen beinhalten nicht nur die Eigenschaften der niedrigeren Ebenen, vielmehr kommt es häufig auf einer neuen Stufe zur Umformung, Relativierung und Überlagerung der niedrigeren durch die höheren Verhaltensweisen (Supervenienz) sowie  zum Erscheinen neuer Systemeigenschaften (Emergenz). Darum lassen sich umgekehrt höhere Ebenen nicht ohne Informationsverlust auf niedrigere Ebenen zurückführen (Fischer, 2007; vgl. auch Schuhmacher, 2007).

Die nachstehende Tabelle fasst diese Sachverhalte zusammen:

Wirklichkeitsebenen

Gültige Normen

Normerklärung

1. Physiko-chemisch
    (Naturgesetze)

   Funktionelle Norm,
   Statistische Norm

   Ist-Zustand verglichen mit    vorgegebenem Sollwert
   Ist-Zustand verglichen mit    statistischem Wert

2. Biologisch

   Funktionelle Norm,
    Statistische Norm

   Ist-Zustand verglichen mit    vorgegebenem Sollwert
   Ist-Zustand verglichen mit statistischem    Wert
   +   selbstregulative Systemeigenschaften
   => Emergenz/Supervenienz neuer
    Qualitäten

3. Psycho-sozial

   Funktionelle Norm,
   Statistische Norm

   Idealnorm

   Ist-Zustand verglichen mit    vorgegebenem Sollwert
    Ist-Zustand verglichen mit statistischem    Wert
   +  selbstregulative Systemeigenschaften
   Ist-Zustand verglichen mit selbst    gewähltem Sollwert

 

Wichtig ist es, psychische Störungen auf allen Wirklichkeitsebenen zu untersuchen, denn auch Ätiologien, die aus einem psycho-sozialen Kontext stammen (z. B. seelische Traumatisierungen) können auf die biologische Ebene zurückwirken (= Abwärtseffekt) ebenso wie ein chemisches Ungleichgewicht für psychologische Störungen oder soziale Auffälligkeit mitverantwortlich sein kann (= Aufwärtseffekt) (vgl. Uexküll und Wesiack, 1998, S. 130 ff.).

Empirische Naturwissenschaften verstoßen häufig gegen die Zuordnungsregeln, wenn sie z. B. versuchen, psychische Phänomene allein durch biologische Gegebenheit zu erklären (Fischer, 2007). Dahinter steht die falsche Annahme, dass sich etwa Systemeigenschaften der dritten Ebene ohne Informationsverlust auf die zweite Ebene reduzieren ließen, nach Fischer ein Beispiel für naturwissenschaftlichen Reduktionismus.

So übt Fischer auch deutlich Reduktionismuskritik, da er den Fehler der empirischen Wissenschaften darin sieht, alles objektivieren zu wollen – auch genuin innere und psychologische Prozesse wie Bewusstsein, Denken, Fühlen etc. Der naturwissenschaftliche Anspruch, das menschliche Selbst vollkommen erfassen zu können, sollte aufgegeben werden. Denn hierzu bedarf es nach Fischer einer anderen, neuen Wissenschaft, die die 'Verobjektivierung' sozusagen durch eine 'Resubjektivierung’ ergänzen kann. In diesem Sinne versteht er die Psychoanalyse als guten Ansatz, da sie sich um ein Verstehen von innen heraus bemüht.
Aus Sicht der Psychoanalyse ist der Mensch mehr als nur ein ein passives Objekt, an dem sich die Wirkungen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig durchsetzen. Als gewachsenes Subjekt besitzt es mehr oder weniger große Spielräume für sein Verhalten. Dieses Subjekt gilt es als Produkt einer einmaligen Geschichte zu erfassen und zu verstehen. Fischer fordert schlussendlich einen Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften, einschließlich der Medizin, die in stärkerem Maße ökologisch, prozessorientiert, auf Inneres und damit individuelle Eigenschaften ausgerichtet sein sollten.

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