Handeln stellt einen grundlegenden Begriff der psychologischen Psychotherapie dar. In Abgrenzung zum Verhalten wird Handeln häufig als bewusstes, vorsätzliches Verhalten bezeichnet. Die psychologische Psychotherapie versteht diese Abgrenzung jedoch als unnötige Einengung, weil z. B. viele Aktivitäten des Organismus oder z. T. das Verhalten von Tieren und Kleinkindern diese Charakteristika entbehren. Stattdessen  beruft sich die psychologische Psychotherapie auf die „Universelle Handlungstheorie“ von  Kirchhoff (1983, S. 105 ff.). Ihr liegt eine weit gefasste Handlungsdefinition zugrunde: „’Gegenstand ist alles, worauf ein Subjekt sich in irgendeinem Zugang beziehen kann.’“ Diese Subjekt-Objekt-Beziehung lässt sich anhand eines Klassifikationssystems präziser fassen. Im so genannten Handlungs-Struktur-Modell (HSM) werden Handlungen anhand von zwölf W-Fragen näher bestimmt. Das Modell beschreibt damit die „Grundstruktur allen Handelns’“ (Kirchhoff, 1983, S. 106).

  Leitfrage/Kurzsignatur

  Bestimmungsmomente

  Wer

  Handelnder/Akteur

  Wie

  Art und Weise

  Wo

  Räumliche Lage

  Wann

  Zeitliche Lage

  Warum

  Grund

  Wozu

  Dienstleistungsfunktion/Ziel

  Womit1

  Operative Mittel (persönliche Dispositionen wie z. B. Gedächtnis)

  Womit2

  Materielle Mittel (Werkzeuggebrauch)

  Was1

  Gegenstand (Bezug)

  Was2

  Ergebnis/Effekt

  Was3

  Folge (beabsichtigte und unbeabsichtigte)

  Wer

  Bezugssubjekt (Adressat der Handlung/Sozialpartner)

Diese zwölf Kriterien bilden die horizontale Ebene der Handlungsbeschreibung. Eine vertikale Betrachtung ergibt sich, wenn man Metapositionen der Handlungsreflexion einbezieht, Handeln also aus der Distanz und quasi von oben gesehen wird.

 

Das InGeKo - Modell
Das HSM lässt sich beispielsweise zur Einschätzung physiologischer Erklärung heranziehen. Wenn man „Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers als ‚intrasomatische Teilstrecke’ der Handlung“ ansieht, entsprechen die Womit-Kriterien (Werkzeuge im wörtlichen und übertragenen Sinne) der physisch-materiellen Ausstattung (z. B. Gehirn) und im weiteren Verständnis dem körperlichen Instrumentarium aus Motorik, Sensorik usw. Auf Handlungsebene ist das Gehirn etwas Instrumentelles und Zweckdienliches. Wenn jemand fragt, wie eine Person ins Gefängnis gekommen ist, und erhält als Antwort: auf ihren Beinen, ist diese instrumentell-physiologische Erklärung nicht angemessen, da es sich um eine Warum-Frage handelt.

Das Modell der interpersonellen und gegenständlichen Ko-Orientierung (InGeKo-Modell) besagt, dass jede soziale Interaktion zwei Dimensionen besitzt (Fischer, 2007): Erstens, die interpersonelle und wechselseitige zwischen den Handlungspartnern, zweitens, den gemeinsamen Bezug auf den jeweiligen Gegenstand X der Handlungssituation. Insgesamt entsteht dadurch eine Struktur mit drei Polen.

 

Das interpersonelle Handeln der Partner A und B lässt sich auch als kommunikatives Handeln bezeichnen; das gegenstandbezogene entsprechend als pragmatisches Handeln. Darüber hinaus können auch die Metaperspektiven von A und B eingebracht werden, im Sinne eines gegenseitigen Hineinversetzens in die Sicht des jeweils anderen. Auf neurologischer Ebene sind hierfür so genannte Spiegelneuronen verantwortlich.


Insgesamt versteht sich das Modell durchaus als funktionale Normvorstellung, da Interaktionen, die von dieser Struktur abweichen, meist klinisch relevante Verzerrungen bedeuten. Beispiele sind Egozentrismus, Misserfolg beim Einnehmen der Metaperspektive oder gar eine Dimensionsvertauschung, bei der Menschen pragmatisch wie Dinge behandelt werden.

Im heuristischen Basismodell der psychologischen Psychotherapie sind die Elemente des Handelns, Wahrnehmens und körperlichen Erlebens miteinander verbunden, indem verschiedene der bereits ausgeführten Modellvorstellungen integriert wurden (Fischer, 2007). Die Struktur ist durch drei Ebenen gekennzeichnet, wobei die erste Dimension, das Handeln, gleichzeitig das Zentrum des Modells bildet.

         I. Handeln (Mitte)
         II. Sozialpsychologische Sphäre (oben)
         III. Selbsterleben (unten)

Auf der Handlungsebene ist das Dreieck des InGeKo-Modells mit seinen beiden Dimensionen „kommunikatives“ und „pragmatisches“ Handeln eingebunden. Die sozialpsychologische Ebene stellt damit mögliche Ausdifferenzierungen von Interaktionen im Sinne des InGeKo-Modells dar (II 2, III 3).

Die selbstbezogene dritte Ebene besteht aus dem innerpsychischen und innersomatischen Anteil (III 3, III 4) und ist im Wesentlichen aus dem Zusammenspiel von Verhalten und Erleben (III 1, III 2) gekennzeichnet. Wie die breiten gegenläufigen Pfeile andeuten, kommt es hier häufig zu Spannungen – Verhalten und Erleben fallen auseinander und werden zu künstlich aufgespaltenen Polen. Diese Dissoziation wieder in eine dialektische Einheit zu überführen, in der das Denken und Handeln eines Patienten sich nicht mehr widerspricht, gehört daher oft zur Therapiepraxis. Das eigene Verhalten wird aber nicht nur unmittelbar erlebt, sondern zusätzlich über die Reflexion und Wirkung bei Interaktionspartnern wahrgenommen.



Dies wird durch den äußeren Kreislauf angedeutet, der links vom Verhalten ausgeht, über die Handlungsebene zu den sozialen Interaktionspartnern führt und schließlich auf der rechten Seite zum Erleben der Person zurückkehrt.

Zudem wird das eigene Handeln durch verschiedene Ausdrucksformen repräsentiert: Hier integriert das Modell die semiotischen Ebenen des Ikonischen, Indexikalischen und Symbolischen. Letztere bezieht sich auf die inneren Repräsentationen des Menschen, neben der sprachlichen ist damit auch allgemein seine bewusste und reflektierte Handlungsplanung angesprochen. Die indexikalische Komponente bezieht sich auf das Verhalten. Demgegenüber wird die ikonische Ebene hier in die Nähe des körperlich-emotionalen Erlebens gerückt.

Das Modell verbindet innere und äußere sowie physische und psychische Perspektive menschlichen Handelns. Daraus dürfte auch deutlich werden: „’Handeln’ ist per se ein somato-psychisches Geschehen, und sogar Denken als die vom körperlichen Handeln scheinbar am weitesten entfernte kognitive Tätigkeit kann mit Freud zutreffend als ‚Probe-Handeln’ bezeichnet werden. Handlungsstörungen […] sind daher stets ‚psycho-somatischer’ Natur.“ (Fischer, 2007) Nicht umsonst werden daher ätiologische Kategorien der kausalen Psychotherapie mit handlungstheoretischen Vorstellungen in Verbindung gebracht, so dass etwa die psychotraumatologische Ätiologie als unterbrochene Handlung zu verstehen ist.

 

Psychobiologische Faktoren in handlungstheoretischer Perspektive
Im Vorgriff auf die Ausführungen zur Psychotraumatologie seien hier die wichtigsten psychobiologischen Faktoren psychischer Störungen in handlungstheoretischer Sicht dargestellt.

 

Psychobiologie der traumatischen Erfahrung als unterbrochene Handlung
Im Sinne der Handlungstheorie wird Trauma als unterbrochene Handlung  verstanden: Der Organismus aktiviert eine Kampf/Fluchtreaktion, kann diese in der traumatischen Situation aber nicht ausführen. Es liegt eine Aufspaltung von Wahrnehmung und Handlung, d. h. Sensorik und Motorik vor. Gleichzeitig bleibt die Vollendungstendenz im Körper aktiviert, die sich in anhaltenden Verspannungen der Muskulatur, Fehlhaltungen von Gliedmaßen etc. äußern kann.

 

Psychobiologie der Psychose als blockierte Handlung
Psychose stellt eine Regression auf das subjektive Selbst, d. h. auf das Körper-Sein und die ikonische Ebene dar. Sie kann z. B. durch ein schweres Beziehungstrauma vom Double-Bind-Typus entstehen, das auf Grund der widersprüchlichen Signale des Double Binds zu einer blockierten Handlung führt. Psychotisches Erleben ist daher als extreme Gegensteuerung zur Handlungsblockierung zu verstehen. Diese Dynamik kann auf biologischer Ebene zu Symptomen wie Katatonie oder Bewegungssturm führen.

 

Psychobiologie der Übersozialisation als gehemmte Handlung
Im Unterschied zur traumatischen Ätiologie wurde bei der Übersozialisierung die Handlung nicht von außen (durch ein traumatisierendes Ereignis) unterbrochen, sondern von inneren Faktoren gehemmt. Zum Verständnis dieser Wirkung zieht die kausale Psychotherapie hier den Ansatz der psychosomatischen Medizin nach Franz Alexander heran (vgl. Alexander, 1985). Danach erklären sich viele Krankheitsphänomene aus einer gleichzeitigen Aktivierung und Hemmung des parasympathischen bzw. sympathischen Teils des vegetativen Nervensystems. Beispielsweise aktivieren aggressive Selbstbehauptung oder Konkurrenzgefühle den Sympathikus, der eine Kampf/Flucht-Reaktion bereitstellt. Angst- und Schuldgefühle hemmen jedoch gleichzeitig diese Reaktion, die damit im Zustand ständiger Aktivierung und Hemmung gefangen bleibt. Diese Konfliktsituation spiegelt auf biologischer Ebene die psychischen Konflikte bei der Ätiologie Übersozialisation.

 

Psychobiologie der Untersozialisation als enthemmte Handlung
Die Ätiologie Untersozialisation fällt in psychobiologischer Hinsicht dadurch auf, dass Patienten eine verminderte oder zumindest veränderte Angstreaktion zeigen. Bei Soziopathen und Betroffenen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung bleibt die angeborene Orientierungsreaktion sogar  gänzlich aus. Dies lässt sich aber nicht unbedingt genetisch erklären, sondern kann trotzdem das Resultat eines von Verwöhnen bzw. Verwahrlosung gekennzeichneten Sozialisierung sein, die für die fehlende Angstentwicklung, die Unfähigkeit aus Erfahrung zu lernen, Impulsivität und mangelndes Einfühlungsvermögen verantwortlich ist.

 


Handlungstheoretische Grundlagen der kausalen Therapie
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