Gerade der Psychoanalyse wurde immer wieder vorgeworfen, ihren Fokus zu sehr auf innere Prozesse zu richten. Kausale Psychotherapie berücksichtigt deshalb nicht nur subjektive Einflüsse, sondere auch objektive Umweltfaktoren. Diese werden jedoch nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrem wechselseitigen Bezug zum Subjekt untersucht. Entscheidend ist ihre Beziehung: Wie erlebt ein Mensch ein Ereignis? Welche Bedeutung verleiht er bestimmten Umweltfaktoren? Diese Person-Umwelt-Beziehung wird in einem ökologischen Verständnis systematisch berücksichtigt (Fischer und Riedesser, 2003, S. 370).



Um die Wichtigkeit dieses Umweltbezugs zu veranschaulichen, übernimmt Fischer in diesem Zusammenhang ein Beispiel von Michael Hanna (Fischer, 2005, S. 20). Er geht der Frage nach, warum Polarbären weißes Fell besitzen. Eine allein vom Subjekt ausgehende Erklärung könnte jetzt mit allerlei Ergebnissen über die genetische Struktur des Bären u. Ä. aufwarten, doch die wesentliche Antwort lässt sich erst unter Berücksichtung des ökologischen Aspekts finden: Der Polarbär hat ein weißes Fell, weil er im Schnee überleben muss. Folglich ist hier der determinative Kontext des Bären ausschlaggebend.

Ähnlich verhält es sich häufig mit Symptomen, die erst in der Betrachtung ihres Entstehungskontextes erklärbar werden. Die kausale Psychotherapie spricht deshalb häufig explizit vom ökologisch-dialektischen Vorgehen, um die immense Bedeutung des ökologischen Aspektes zu betonen.

 

Der Funktionskreis nach J. v. Uexküll
Der Biologe und Zoologe Jakob von Uexküll (1864-1944) entwickelte ein Funktionskreismodell, um das Zusammenspiel von lebenden Systemen (Tieren) und ihrer Umwelt zu beschreiben (Uexküll und Wesiack, 2003, S. 3 ff.). Entscheidend war dabei sein neues Verständnis des Umweltbegriffs. Denn nach Uexküll lassen sich Umgebung und Organismus nur durch ihre Beziehungen zueinander definieren. Dabei reagieren Organismen nicht einfach auf Außenreize, vielmehr hängt deren Wahrnehmung bereits von den inneren Faktoren des Organismus’ ab. Merken (= Wahrnehmung) und Wirken (= Handlung) beeinflussen sich gegenseitig. Innerhalb eines zirkulären Prozesses geben erst die Sinnesorgane einem Umgebungsfaktor wie z. B. einem Duft eine bestimmte Bedeutung (z. B. als Nahrung, Geschlechtspartner etc.). Diese Bedeutungserteilung geschieht abhängig von den Bedürfnissen des Organismus und verwandelt damit die objektive Umgebung subjektiv erst in Umwelt (Uexküll und Wesiack, 1998, S. 65 ff.). Gegenüber Außenreizen, die in der Umgebung zwar vorhanden sind, aber für den Organismus keine Rolle spielen, ist er damit quasi „blind“ – er orientiert sich allein an seiner subjektiv konstruierten Umwelt. Die Bedeutungserteilung (Wahrnehmungsseite) löst dann die Bedeutungsverwertung auf der Handlungsseite aus. Das Verhalten ist seinerseits rückgekoppelt an die Wahrnehmung der Erfolgskontrolle. Hier wird das so genannte pragmatische Realitätsprinzip wirksam: Es ist erfüllt, sobald das wahrgenommene Zeichen, welches die Handlung ausgelöst hat, gerade durch diese Handlung verschwindet. Wenn nicht, war die Bedeutungserteilung fehlerhaft und der Kreislauf muss wiederholt werden.

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Der Situationskreis nach T. v. Uexküll
Uexkülls Sohn Thure von Uexküll entwickelte später gemeinsam mit Wolfgang Wesiack den Funktionskreis zum Situationskreis weiter, der sich auch auf Menschen anwenden lässt und als integratives Modell der Humanmedizin zur Untersuchung von Krankheitsverläufen genutzt wird. Die Entstehung von Symptomen aus einer solchen integrativen Perspektive zu betrachten, ist auch für Psychologie und Psychotherapie nützlich.

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Ähnlich wie der Funktionskreis zeigt auch der Situationskreis den wechselseitigen Einfluss von Subjekt und Umwelt, wobei sich eine rezeptorische Ebene (Wahrnehmung) und eine effektorische Ebene (Handlung) unterscheiden lassen. Gemeinsam ergeben sie einen sensomotorischen Kreis, in dem die Wahrnehmungsseite auch unter dem Einfluss von Mangelzuständen (Problemsituationen) und Handlungsentwürfen steht und umgekehrt das Handeln durch die Wahrnehmung geprägt wird (Problemlösung). Während die Bedeutungserteilung im Funktionskreis und damit im Tierreich auf einer reflexartigen Ebene von Bedürfnis und Befriedigung geschieht, bildet sie beim Menschen eine komplexe kognitive Sequenz. Denken, Phantasie und Probehandeln im Rahmen eines vergleichsweise großen Reaktionsrepertoires erlauben dabei viel Spielraum für die individuelle Wirklichkeitskonstruktion. Sie ergibt sich schließlich aus den drei Schritten Bedeutungsunterstellung, Bedeutungserprobung und Bedeutungserteilung und erlaubt intelligentes Problemlöseverhalten, um die Passung zwischen Umwelt und Organismus wieder herzustellen.

Dieser Versuch misslingt bei vielen psychischen Störungen. Daher ist die Untersuchung der Innen-Außen-Relation sowie der gegenseitigen Beeinflussung von Wahrnehmung, Bedeutungsinterpretation und Handeln im lebensgeschichtlichen Kontext von Patienten so notwendig, um die Entstehung von physischen und psychischen Symptomen nachzuvollziehen.
Dafür werden die Reaktionen eines Individuums auf Einwirkungen der Umgebung nicht als Wirkungen von bestimmten Ursachen gesehen, sondern als individuell - da von der eigenen Erfahrung und den eigenen Bedürfnissen geprägt -  interpretierte Zeichen.

 

Ökologischer Ansatz
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