Dialektik

Die kognitive Entwicklung des Menschen lässt sich als gestuftes, dialektisches Fortschreiten des Geistes durch die Aufhebung von Widersprüchen verstehen (Kesselring, 1981). Neben den verschiedenen Entwicklungsstadien sind dabei gerade die allgemeinen Funktionsprinzipien des Veränderungsprozesses für die kausale Psychotherapie interessant, weil sie auch noch für das Denken und Lernen im Erwachsenenleben gelten.

Der Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe (= Wissenschaftstheoretiker) Jean Piaget (1896-1980) beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit der geistigen Entwicklung von Kindern. Piaget hob im Gegensatz zum Behaviorismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte, die Bedeutung der kognitiven Komponente beim Lernen hervor.
Während der Behaviorismus davon ausging, Lernen sei jederzeit durch bestimmte Reiz-Reaktions-Konstellationen (Konditionierung) möglich, vertrat Piaget die Ansicht, dass die geistige Entwicklung des Menschen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten und in universellen Stadien verlaufe (Piaget, 1992).

Piagets epigenetische Entwicklungstheorie ist Teil seiner allgemeinen Erkenntnistheorie und vertritt den Ansatz, dass Entwicklungsprozesse wirkliche Neuerungen hervorbringen. Piaget geht außerdem von der konstruktivistischen Annahme aus, dass Kinder ihr Weltwissen spielerisch ausprobieren und aktiv konstruieren müssen, um sich der Umwelt anzupassen. Denken und Handeln gehen dabei Hand in Hand.

Grundbegriffe in Piagets epigenetischer Entwicklungstheorie
Piaget interessierte sich weniger für die Lerninhalte, sondern vor allem für die Elemente, die bei allen Lernprozessen entweder gleich bleiben oder sich nach entwicklungsbedingten Gesetzmäßigkeiten verändern. Zur ersten Kategorie gehören die Funktionen Assimilation und Akkommodation, zur zweiten Kategorie Strukturen und Schemata.

Strukturen und Schemata: „Schemata sind generelle begriffliche Rahmen oder Wissensstrukturen und enthalten Vorannahmen über bestimmte Gegenstände, Menschen und Situationen und die Art ihrer Beziehungen.“ (Zimbardo, 1995, S. 336) Sie ordnen Informationen in Kategorien und sind untereinander in Netzwerken verknüpft. Als sensomotorische oder kognitive Kategorien geben sie uns Orientierung und unterstützen unsere Koordination und Handlungsplanung. Strukturen sind gegenüber einzelnen Schemata komplexer organisiert und müssen nach Piaget noch weitere Bedingungen erfüllen.

Funktionen: Nach Piaget wird der Mensch mit zwei fundamentalen Tendenzen geboren: Zum einen ist dies die Tendenz zur Organisation, zur Integration der eigenen Prozesse in kohärente Systeme. Zum anderen ist dies die Tendenz zur Adaptation, d.h. zur Anpassung an die Umgebung. Diese erfolgt mittels zweier fundamentaler Prozesse, die als komplementäre Funktionen zu verstehen sind. Beide dienen der aktiven Anpassung des Individuums an seine Umwelt und dem Erreichen eines Gleichgewichtes zwischen beiden. Aus dem Wechselspiel von Assimilation und Akkomodation erwachsen Lernprozesse, resultiert kognitive Entwicklung.

Assimilation: Wahrnehmungen der Umwelt werden den kognitiven Strukturen angepasst. Das bedeutet, Informationen, die das Individuum aus seiner Umwelt aufnimmt, werden so verändert, dass sie zu einem bereits existierenden Schema passen. Die vorhandenen Schemata erweitern sich also dadurch, dass sie sich ähnliche Erfahrungen einverleiben und damit zu Eigen machen.

Akkommodation: Wenn eine neue Erfahrung zu keinem Schema passt bzw. im Widerspruch zu den bisherigen Strukturen steht, muss das Schema auf die Umweltbedingungen abgestimmt und so verändert werden, dass die neue Information integrierbar wird.

Äquilibration: Jeder Mensch ist bestrebt, durch Assimilation und Akkomodation immer wieder ein Äqulilibrium, also einen Gleichgewichtszustand herzustellen. Es ist Ziel jeglicher Aktivität. Tatsächlich wechseln sich Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszustände kontinuierlich ab und treiben so die geistige Entwicklung erst an. Denn jedes neue Ungleichgewicht, z. B. durch eine Wahrnehmung, die im Widerspruch zum bisherigen Schema steht, macht das Finden eines neuen Gleichgewichts auf höherer Ebene notwendig. Die Konzeption von Assimilation und Akkommodation ist demnach dialektisch.

Dezentrierung stellt ein weiteres wichtiges Konzept in Piagets Entwicklungstheorie dar. Es beschreibt die Tendenz zur zunehmenden Objektivierung der eigenen Sicht. Während der Säugling zuerst vollkommen seiner egozentrischen Weltsicht verhaftet ist, gewinnt das Kind im Laufe seiner Entwicklung eine immer weniger subjektive Perspektive (Fischer, 2007).

Dialektik


Entwicklungsstadien in Piagets epigenetischer Entwicklungstheorie
Piaget unterscheidet mehrere Entwicklungsstadien, die jedoch alle die folgenden Merkmale besitzen (Piaget, 1992):

Als Grundlage der Entwicklungstheorie thematisiert Piaget den engen Zusammenhang von Handeln und Denken. Alle Formen des Denkens haben ihren Ursprung in konkreten Handlungen: Das Kind beginnt tastend seine Umwelt zu erkunden. Im Laufe der Jahre ist es in der Lage, das Denken immer weiter vom Tun zu abstrahieren, bis beides beim Erwachsenen schließlich ganz unabhängig voneinander funktioniert. Dieser Prozess lässt sich durch einige charakteristische Phasen beschreiben. Die Grenzen zwischen den einzelnen Stadien verlaufen dabei fließend und die folgenden Altersangaben sind lediglich als ungefähre Werte zu verstehen.

Folgende Tabelle fasst die Charakteristika der jeweiligen Stufen zusammen:

Dialektik

Charakteristisch für die Entwicklungsstufe des reifen dialektischen Denkens ist quasi die Rezentrierung der konkretoperationalen Phase auf höherem Niveau (Fischer, 2007). Alles, was dort schon möglich war, ist jetzt auch auf abstrakter und vor allem reflektierter Ebene möglich. So wird das formale Denken mit seinen polarisierten Wahr-Unwahr-Vorstellungen relativiert. Inhalt und Form verbinden sich (ebd.).

Fischer (2007) versteht diese Stadienfolge im Sinne zweier Triaden dialektischer Entwicklung: Die Phase präoperationalen Denkens negiert das sensomotorische Stadium, dann werden beide in der Stufe konkreter Operationen dialektisch aufgehoben. Diese Stufe stellt gleichzeitig den Ausgangspunkt der zweiten Triade dar. Denn das formal-logische Stadium negiert das konkretoperationale, die Stufe dialektischer Operationen wird dann zur Metaebene.

Der Stufenübergang vollzieht sich dialektisch durch die Aufhebung von Widersprüchen. Die kognitiv-emotionale Veränderungsentwicklung im therapeutischen Kontext verläuft in ähnlicher Weise.



Dialektische Konzeptionen gehen davon aus, dass sich Entwicklung durch die Überwindung von Widersprüchen und Gegensätzen vollzieht. Dynamik ist damit ein weiteres Kennzeichen der Dialektik (Fischer 1989). Beide Elemente sind Bestandteil psychodynamischer Ansätze. Auf diese Ausrichtung der Psychoanalyse, die „unbewusst dem Zug des dialektischen Denkens“ folgt, wies bereits Schraml (1960) in den 1960er Jahren hin. Fischer führt diesen Ansatz weiter, da er dafür plädiert, dass die Dialektik als implizites Merkmal der Psychoanalyse bewusst wird (Fischer, 2005). Eine explizit dialektische Psychoanalyse zielt darauf, die natürliche Selbstheilungstendenz des Patienten freizusetzen, indem dieser seine Selbstwidersprüche erkennt, überwindet und seine eigene Wahrheit findet. Jenseits von Deutung, Einsicht oder Ressourcenorientierung setzt der Patient so ganz aus sich selbst heraus und gemäß seiner eigenen Entwicklung gesundheitsfördernde Veränderungen in Gang (ebd.).


Die Negation der Negation als psychotherapeutischer Transformationsprozess
Übertragen auf das therapeutische Setting erreicht man eine Negation der Negation als dialektische Erfahrung in folgenden Schritten (Fischer, 2000):

a)       Ausgangsstufe: Entweder – Oder (Negation)

Eine eigentlich kontinuierliche (Beziehungs)Polarität erfährt eine primäre Negation, die man als Entweder-Oder-Formulierung ausdrücken kann. Ein Beispiel wäre ein aufgespaltenes Verständnis einer Partnerbeziehung, demzufolge Menschen nur in totaler Nähe oder aber entfremdet und getrennt sein können. Wichtig ist, diesen Ausgangspunkt als Negation erst einmal bewusst zu machen und die Gegensätze frei zu entfalten.

b)       Übergangsstufe: Weder – Noch (Dekonstruktion)

In der Übergangsphase kommt die Negation der Negation zum Tragen: Dabei werden beide Extreme verneint. Demnach lässt sich im Beispiel Beziehung weder als extreme Nähe noch als Entfremdung verstehen. Das aufgespaltene Verständnis von Beziehung muss überarbeitet, d. h. dekonstruiert werden. Ambivalenz und inneres Suchen sind typisch für diese Phase.

c)       Metastufe: Relativierung und Transformation (Konstruktion)

Auf der Metaebene wird eine neue Verbindung der beiden Pole entwickelt. Diese lässt sich jedoch nur erreichen, wenn die absoluten Gegensätze der Ausgangsstufe relativiert werden. Deshalb stellt die Metaebene auch nicht einfach eine Sowohl-als-auch-Lösung dar, schließlich können die beiden Anfangspunkte nicht unverändert integriert werden, sondern müssen ihre Qualitäten transformieren. Zudem erfolgt dieser Prozess über mehrere Stufenübergänge. Das gelungene Veränderungsergebnis zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass die dialektische Aufhebung in dreifacher Hinsicht erfüllt ist: Der ursprüngliche Selbstwiderspruch ist eliminiert und die Bedeutung der Polaritäten bewahrt durch seine Integration in einer neuen Metaebene. Im Beispiel entspräche dies einer individuell auszugestaltenden Beziehungsform, in der sich Nähe und Distanz der Partner gegenseitig bedingen und verbinden.

Diesen Prozess bezeichnet Fischer (2007) auch als „vertikale Transformation“, weil hier Veränderung über verschiedene Ebenen hinweg erreicht wird. Der Transformationsverlauf lässt sich auch unabhängig von der jeweils inhaltlich betroffenen Polarität als Aufspaltung von Selbst und Außenwelt begreifen. Nach diesem Verständnis besteht die Negation in der Spaltung in die „Wahrnehmung eines Problems, das ausschließlich als Teil der Außenwelt erscheint […] und in das Selbst als regulative Instanz der Problembearbeitung (ebd.).“ Solange das Problem aber als etwas Fremdes und Anderes erscheint, fehlt die Selbstbezüglichkeit der Situation. Durch die Negation der Negation muss dann die Beziehung von Subjekt und Umwelt erst wiederhergestellt und ihr Gegensatz auf der Metastufe integriert werden, so dass das Problem durch das Selbst regulierbar wird.
An diesem allgemeinen Ablauf erkennt man, wie zentral die Arbeit mit inneren Widersprüchen und das Wiederherstellen ihrer ursprünglichen Einheit im Rahmen einer dialektischen Psychotherapie ist. Deshalb gilt auch für die kausale Psychotherapie die nachstehende Definition der psychodynamisch-dialektischen Psychotherapie, welche betont allgemein verständlich und für Patienten leicht nachvollziehbar ihre Orientierung an der philosophischen Dialektik formuliert:
„Psychodynamisch-dialektische Psychotherapie ist die Wissenschaft vom Ausstieg aus Beziehungslabyrinthen und lebensgeschichtlich eingefahrenen ‚Sackgassen’. Sie beschreibt die innere Logik von Konflikten und Paradoxien und lehrt die Kunst, sie als Selbstwiderspruch zu erkennen, um aus dem Labyrinth herauszufinden (Fischer, 2005, S. 8).“

 

Die dialektische Zeitstruktur
Das dialektische Denken der kausalen Psychotherapie betrachtet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht „als getrennte Größen, sondern als Momente des übergreifenden zeitlichen Prozesses“ (Fischer, 2007). In diesem Verständnis ist die Gegenwart nicht mechanisch durch die Vergangenheit determiniert. Vielmehr wird sie ebenso gut durch die Zukunft bestimmt, nämlich durch die zukunftsgerichteten Pläne und Ziele, mit denen die gegenwärtige Problemlage überwunden werden soll. Darüber hinaus verändert eine positive Zukunftsperspektive auch die Interpretation der Vergangenheit. Damit stellt die Zukunft im dialektischen Sinne die Negation der Vergangenheit dar. Deren Negation ist die Gegenwart als Moment des Werdens und Übergangs von Vergangenheit und Zukunft (Fischer, 2007).
Dieses psychische Zeiterleben bietet mit seiner natürlichen dialektischen Struktur eine gesunde Reaktionsmöglichkeit auf Problemsituationen. Dabei kann Hegels Begriff der Aufhebung zur Erklärung herangezogen werden. Erfolgreiche Problembewältigung sieht demnach so aus, dass der bisherige Lösungsweg auf einer Metaebene reflektiert (elevare) und das Problem ausgeräumt wird (eliminare), wobei das Gedächtnis sowohl die Ausgangslage als auch die Lösungsmöglichkeit speichert (conservare). Das Erinnern der Vergangenheit schließt die Problemsituation in der Gegenwart ab und macht diese frei für die Zukunft.
Psychische Störungen sind dagegen durch eine Auflösung der natürlichen dialektischen Zeitstruktur charakterisiert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fehlt die innere Verbindung. Stattdessen bilden Zukunft und Vergangenheit isolierte Gegenpole, denen die vermittelnde Funktion der Gegenwart abgeht. Die Vergangenheit dehnt sich unangemessen aus und determiniert nun wirklich die Gegenwart, so dass diese nicht zur (positiven) Zukunft werden kann. Das psychische Zeiterleben ist damit quasi eingefroren. Die Aufgabe der kausalen Psychotherapie besteht nun darin, die dialektische Zeitstruktur wieder freizusetzen, indem Vergangenheit und Gegenwart zunächst negiert (eliminare) und anschließend rekonstruiert (conservare) werden, bis sie auf einem übergeordneten Level in den Zukunftsentwurf des Patienten integrierbar sind.

 

 


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