Hermeneutik
Dialektischer und hermeneutischer Erkenntnisfortschritt sind ähnliche Prozesse, die der Therapeut in der kausalen Psychotherapie ergänzend anwenden sollte, um ein besseres Verständnis für seinen Patienten zu erzielen.
Als Hermeneutik bezeichnete man ursprünglich die Auslegekunst von Texten. Mit Friedrich Schleiermacher (1768-1834) wird Hermeneutik später als umfassende Theorie des Verstehens definiert (Prechtl und Burkhard, 1996, S. 231 f.). Hermeneutische Philosophie untersucht daher die „Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens und der Verständigung im Reden und Handeln“ (vgl. Mittelstraß, 2005, S. 87).

Im 20. Jahrhundert war Hans-Georg Gadamer (1900-2002) ein bedeutsamer Vertreter dieses erkenntnistheoretischen Ansatzes, u. a. weil er die Methode des so genannten hermeneutischen Zirkels präzisierte. Dieser basiert auf einer hermeneutischen Grundregel, die bereits aus der Rhetorik der Antike übernommen wurde: Man muss „das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen“ (Gadamer, 1977, S. 54) verstehen.

 

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Es geht beim Verstehen also um ein wechselseitig bedingtes Verhältnis zwischen Teilen und ihrer Gesamtheit. Gadamer thematisierte dabei besonders die Bedeutung des Vorwissens. Demnach vollzieht sich der hermeneutische Zirkel als Prozess, der das eigene Vorverständnis laufend überprüft. Nach Gadamer ergibt sich ein erstes Teilverständnis auf Grund der Erwartungshaltung, die sich eventuell bestätigt, doch bei weiterer Durchdringung des Themas im Dialog oder anhand des beobachtbaren Verhaltens durchläuft der Verstehensprozess mehrere Stadien des Entwerfens, Verwerfens und wiederum Neuentwerfens und revidiert dabei wiederholt das Vorverständnis (ebd., S. 56 f.). So entwickelt sich Verstehen schrittweise auf immer höherem Niveau.

Daher ist der hermeneutische Zirkel tatsächlich vielmehr eine Spirale des Erkenntnisfortschritts als ein Teufelskreis, der nur immer wieder zum Ausgangspunkt gelangt. Der Verstehensprozess im hermeneutischen Zirkel entspricht einem kritischen Dialog mit dialektischem Charakter. Die Anwendbarkeit in der psychoanalytischen Praxis ist evident, weil sie maßgeblich auf dem therapeutischen Dialog und einer immer tieferen Interpretation anfänglich fremdartiger Inhalte aufbaut (vgl. Lang, 1993, 12 ff.).
Wissenschaftliche Hermeneutik, wie sie auch in der kausalen Psychotherapie angewandt wird, beachtet darüber hinaus insbesondere folgende Gütekriterien (Lechler, 1982, S. 243 ff.):

Kommunikative Validierung/Argumentative Validierung:
Die Interpretationen des Therapeuten/Forschers werden mit den betreffenden Patienten/Versuchspersonen oder auch anderen Experten und Kollegen diskutiert, so dass diese Rückmeldung zur Gültigkeit der Aussagen und Interpretation geben können. Auf diese Weise wird durch die Übereinstimmung validiert, ob Kognitionen und subjektive Erlebniswelten angemessen rekonstruiert wurden.

Handlungsvalidierung:
Über konsensuale Verständigung hinaus geht es bei der Handlungsvalidierung um den beobachtbaren Zusammenhang von Verhalten und Selbstaussagen des Patienten. Spaltungen zwischen Handeln und Denken des Patienten werden so offenbar. Damit dient die Handlungsvalidierung nicht nur als Instrument, um Widersprüche aufzudecken, sondern auch dazu, den Therapieerfolg zu ermessen: Man betrachtet dabei, ob es einen Zusammenhang zwischen veränderten Kognitionen und beobachtbarem Verhalten beim Patienten gibt. Denn Therapieerfolg zeigt sich nicht (allein) an einer gelungenen kognitiven Entwicklung, sondern im Abklingen der Symptome und dem Verschwinden problematischer Verhaltensweisen. Handlungsvalidierung wird idealer weise ergänzend zur kommunikativen Validierung eingesetzt.
Mit dieser Methodik können wissenschaftliche Beobachtungen gerade in der Psychotherapie abgesichert werden.

 

Dialektik und Phänomenologie
Phänomenologie ist ein grundlegender Begriff der Erkenntnistheorie und lässt sich ganz allgemein als „die Lehre von den ‚Erscheinungen’“ (Mittelstraß, 2005, S. 155) beschreiben. Diese wird jedoch in verschiedenen philosophischen und nicht-philosophischen Kontexten ganz unterschiedlich präzisiert.
Edmund Husserl  (1859-1938) gilt als der Begründer der Phänomenologie im engeren Sinne. (ebd.). Er beschäftigte sich vor allem damit, wie sich das Bewusstsein, das Wesen des mentalen Erkennens beschreiben lässt. Grundlegend war dabei für ihn die vorurteilslose Beschreibung beobachteter Phänomene.
„Husserl sucht die Grundlage jeder alltäglichen, wissenschaftlichen Erkenntnis im konsequenten Absehen von jeder vorgefassten Meinung. Die einzigen Voraussetzungen, die für Husserl gültig bleiben, sind: dass Erkenntnis sich in Bewusstseinsakten vollzieht und dass es möglich ist, eine reine (d. h. theoriefreie) Beschreibung des sich in solchen Erkenntnisakten Zeigenden zu geben.“ (Hügli und Lübcke, 1997, 296 ff.)
Aus diesem Grund war es für Husserl unerheblich, ob der Inhalt des Bewusstseins eine Entsprechung in der äußeren Welt hat – entscheidend ist allein die subjektive Sicht. Es kommt also darauf an, an was jemand denkt, und nicht darauf, ob es real ist.

Hegels dialektisches Prinzip der Negation der Negation enthält ebenfalls ein phänomenologisches Element, weil es die Polarität der Ausgangslage so berücksichtigt, wie sie sich aus der Sicht des Subjekts ergibt, ohne zusätzliche Annahmen von außen einzubeziehen (vgl. Fischer, 2000, S. 37).

Bei der kausalen Psychotherapie kommt die Phänomenologie als Forschungsgrundlage und „empirische Grundlage der Dialektik“ (ebd.) zum Einsatz und wird folgendermaßen definiert:
„In der Psychologie und Psychotherapie bedeutet phänomenologisches Vorgehen die unvoreinge-nommene, relativ theoriefreie Beschreibung einer Situation in der Perspektive des erlebenden und handelnden Subjekt.“ (ebd.).
Fischer orientiert sich dabei am Begriff der disziplinierten Naivität des Sozialpsychologen McLeod. Naivität meint hier eine offene, nahezu kindliche Wahrnehmungsfähigkeit, die sich mit disziplinierter Beobachtung und (umgangssprachlicher) Beschreibung verbindet. Dadurch wird eine voreilige Theoretisierung der Daten vermieden. Bei der Beobachtung von Menschen bildet Empathie die Grundlage der phänomenlogischen Beobachtungshaltung, denn es geht darum, die subjektive Weltsicht eines Menschen zu erfassen. Mit Hilfe kommunikativer Validierung und einfühlsamem Mitgehen im Gespräch kann dies erreicht werden.

 

Annahmen phänomenologischer Dialektik
Phänomenologisches und dialektisches Vorgehen führen in ihrer Verbindung zu einigen weiterführenden Annahmen, die die Strategie der kausalen Psychotherapie präzisieren (vgl. Fischer, 2000, S. 40 ff.; vgl. auch Fischer 2005, S. 31 f.).

Ganzheitliche Sicht:
Diese Annahme wendet sich einerseits gegen den reduktionischen Monismus, z. B. die Erklärung psycho-sozialer Phänomene in der Wissenschaftssprache der Physiologie, da die komplexere psycho-soziale Wirklichkeitsebene nicht vollständig durch die Funktionsweise der (niedrigeren) physiologischen Ebene abgebildet werden kann. Andererseits richtet sich die Annahme gegen jede Form des Dualismus wie Leib/Seele oder Individuum/Umwelt etc.

 Annahme interner Beziehungen zwischen Gegensatzpaaren:
Gegensätze bilden nicht nur zwei beliebige Pole, sondern bedingen und implizieren  sich gegenseitig.

Kategorie des Prozesses:
Dialektik geht davon aus, dass sich die Wirklichkeit ständig verändert. Insofern gilt das Primat des Prozesses, wobei Struktur als ein Merkmal von Prozessen betrachtet wird.

Primat der Praxis vor der Struktur, von Handeln und aktivem Erkennen vor „kontemplativer“ Erkenntnis:
Dem Verhalten wird mehr Bedeutung beigemessen als der Selbstinterpretation des Handelnden.

Handlungsfundierung der kognitiven Entwicklung:
Dialektik nimmt wie die Entwick-lungspsychologie nach Piaget an, dass sich die Erkenntnisfähigkeit des Menschen an seinen Handlungen entwickelt.

Beziehung zwischen Beziehungen:
Analyseeinheit der Dialektik sind nicht materielle Gegebenheiten und Verhältnisse, sondern Beziehungen.

Diese Annahmen rücken Dialektik auch in die Nähe der Systemtheorie, jedoch versteht sich die phänomenologische Dialektik als „Theorie von innen’“ (Fischer, 2000, S. 42), für die die Sicht des Subjekts ausschlaggebend ist, insofern könnte man sie auch als „subjektive oder reflexive Systemtheorie“ (ebd.) bezeichnen.

 

Dialektik, Hermeneutik und Phänomenologie als therapeutische Arbeitsschritte
Die drei Philosophien Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik lassen sich drei Stadien psychoanalytischer und psychodynamischer Therapie zuordnen, in denen sie jeweils eine besonders große Rolle spielen. Darüber hinaus sollten ihre Prinzipien aber in alle therapeutischen Phasen einfließen.

1. Phänomenologie – Beobachtungshaltung/gleichschwebende Aufmerksamkeit
Eine phänomenologische Orientierung spielt besonders in der Anfangsphase der Psychotherapie eine große Rolle, da es hierbei vor allem um Beobachtung der subjektiven Erlebniswelt eines Patienten geht. Eine phänomenologische Haltung zeichnet sich durch Vorurteilsfreiheit und das Zurückhalten theoretischer Annahmen aus. Darin ist sie mit der „’gleichschwebenden Aufmerksamkeit’“ (Fischer, 2007) vergleichbar, die Freud für Analytiker empfiehlt.

2. Hermeneutik – Widerstandsanalyse/Deutung
Im nächsten Schritt geht es darum, den Patienten beim Verlassen seines subjektiven Bezugsrahmens zu unterstützen. Im Zentrum der Therapie stehen jetzt eine Analyse seiner Widerstände und die Deutung seiner Verhaltens- und Beziehungsmuster. Dies setzt aber ein Verstehen voraus, wie es der hermeneutische Zirkel beschreibt: Das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen zu begreifen. Das Ganze schließt dabei auch Umweltfaktoren und -interaktionen mit ein, so dass beim hermeneutischen Vorgehen auch der ökologische Aspekt der kausalen Psychotherapie angesprochen ist.

3. Dialektik – therapeutische Veränderung
Dialektisches Vorgehen im engeren Sinne, nämlich als Auflösung von Widersprüchen auf einer höheren Erkenntnisebene, ist das Thema der Therapiephase, die sich mit therapeutischen Veränderungen befasst.


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