Therapie der Ätiologie Übersozialisation (Neurose)

Dialektik der Ätiologie
Übersozialisation ist dadurch gekennzeichnet, dass die dialektische Beziehung zwischen den natürlichen Bedürfnissen des Individuums und den gesellschaftlichen Erfordernissen zerbrochen ist. Natur und Kultur stehen nicht mehr im Einklang miteinander (vgl. Fischer, 2007). Stattdessen hat sich das Individuum übermäßig stark an sozialen Normen, Moralvorstellungen und Regeln orientiert. Nach dem Freudschen Strukturmodell setzt also ein erbarmungsloses Über-Ich das Ich mit überzogenen Forderungen unter Druck. Dieses erreicht die Idealerwartungen nicht und leidet daher unter Selbstwertproblemen und depressiven Verstimmungen.

Die Pathogenese und -dynamik ist bestimmt vom Konflikt zwischen (Trieb)Wünschen und ihrer Abwehr. Die Aufspaltung dieser Pole wird mit KF Wunsch-/Abwehr-Dynamik erfasst. Zunächst wird die Abwehr beschrieben, anschließend die Wünsche als progressive und regressive Variante betrachtet. Darüber hinaus kommt der KF Konfliktbogen zum Einsatz. Der Grundkonflikt, aber auch weitere untergeordnete Konfliktbereiche lassen sich jeweils in einem  KF Konfliktparallelogramm veranschaulichen.

Umgang mit der Abwehr
Die bewussten, d. h. hier die Über-Ich-gesteuerten Ziele des Patienten bestehen meist in überhöhten Erwartungen an sich selbst und andere, z. B. in einer übermäßigen Leistungsorientierung oder in einer körperfeindlichen Einstellung. Anstatt diese extremen Formen der Abwehr zu hinterfragen, verbündet sich der Therapeut zunächst mit ihnen und behandelt sie als vernünftige Strategien. Oft kommen Patienten dann von selbst auf die negativen Seiten ihrer starken Normorientierung zu sprechen.

Basisintervention
Die dialektische Interventionslinie zielt darauf, die unbewusste automatisierte Abwehr in bewusste und kontrolliert einsetzbare Copingstrategien zu verwandeln:

Beispiel für eine Basisintervention bei Verdrängung von Wünschen/Triebimpulsen:

  1. Auf Grund von Konstellation x/y haben Sie gelernt, bestimmte Wünsche (Erinnerungen an bestimmte Vorfälle) nicht mehr wahrzunehmen. Dies war vielleicht „überlebenswichtig“ für Sie, und ist sehr verständlich, da Sie erleben mussten, dass diese Wünsche abgelehnt wurden (beim dem, was sie erleben mussten). Es ist vernünftig, an Wünsche, die wir nicht verwirklichen können, nicht ständig zu denken.
  2. Aber manchmal tauchen diese Gedanken dann doch wieder auf.
  3. Was können wir beide tun, damit Sie diese Gedanken (Erinnerungen) noch besser kontrollieren können (Fischer, 2007, 483 ff.)

An dieser Stelle kann man z. B. eine Verdrängungsübung einbauen: Der Patient soll zunächst an etwas Bestimmtes denken (z. B. an einen roten Grizzlybären) und anschließend bewusst versuchen, nicht mehr daran zu denken. Schnell wird der Patient den paradoxen Grundmechanismus der Verdrängung erkennen: Das, was man gerade vermeiden möchte, tritt umso aufdringlicher ins Bewusstsein. Im zweiten Teil der Übung soll sich der Patient eine Wolke vorstellen, auf die er gedanklich den roten Grizzlybären platziert und beide weiterziehen lässt, bis sie schließlich am Horizont verschwinden. So bekommt der Patient eine Vorstellung davon, wie er sich von lästigen Vorstellungen befreien kann.

Insgesamt geht es bei der Basisintervention zum einen um vermehrte Selbstaufmerksamkeit und -wahrnehmung. Zum anderen tritt wie oft bei dialektischen Interventionen der Effekt ein, dass sie ihr Gegenteil hervorbringen. Bewusstheit als Gegenteil der Verdrängung. Nützlich ist dabei auch die Arbeit mit den individuellen Erlebniszuständen (KF 14), insbesondere wenn bereits eine depressive Stimmungslage im Vordergrund steht, das psychische System also vor allem durch ein (das Ich überforderndes) Über-Ich regiert wird. Hier hilft es Patienten den Kritiker auf ihrer inneren Bühne genauer zu untersuchen.

Beziehungsgestaltung
Der Therapeut wird entweder als Verkörperung des Über-Ich-Ideals wahrgenommen, der (mit harten Regeln) die Perfektionierungsbestrebungen des Patienten unterstützt, oder er erscheint dem Patient als nicht vertrauenswürdiger „Rebell gegen die Normen“ (ebd., S. 497) und wird daher entwertet. Zwischen diesen Extremen muss sich die tatsächliche therapeutische Haltung ansiedeln (Weder-Noch), mit der sich der Therapeut als zuverlässiger und integerer Kooperationspartner erweist.

Prozessgestaltung
Im weiteren Prozess hängt es vom Entwicklungsstand des Patienten ab, ob der Therapeut direkt mit Übertragungsdeutungen  arbeiten kann oder – wenn der Patient die Übertragung nicht als solche erkennt – weitere dialektische Interventionen anbringen muss. Ein Beispiel ist eine  Konfrontation mit Form und Inhalt des Beziehungsschemas des Patienten. Dabei macht der Therapeut dem Patienten dessen Neigung zur Selbstabwertung und/oder -einschränkung  bewusst, die er zuvor mit ihm in der Konfigurationsanalyse herausgearbeitet hat.

Beispiel für eine Intervention zur Konfrontation mit Form und Inhalt des Beziehungsschemas:

„Sie haben nun schon mehrfach geäußert, dass ich Ihre Leistungen nicht anerkennen will. Genauso verhält sich Ihr „innerer Kritiker“ zu dem „kleinen Jungen“ in Ihnen, der es ihm auch nie recht machen kann. Wir haben uns diese Kenntnis Ihrer „inneren Bühne“ gemeinsam erarbeitet. Die Frage ist, warum Sie den inneren Kriegszustand zwischen diesen inneren Kräften und Instanzen fortsetzen müssen, auch z. B. hier in unserer Beziehung.“

So deutet der Therapeut die Sequenz als inneren Vorgang des Patienten und nimmt sich selbst damit teilweise aus der Übertragung heraus.

Wenn der Patient in einer passiven Abhängigkeitsposition gegenüber dem Therapeuten verharrt, sollte dieser die Abhängigkeitsübertragung auflösen, um den Patienten dialektisch zur Eigeninitiative und aktiven Veränderung zu bewegen. Er setzt dies z. B. dadurch um, dass er den Patienten auf die Grenzen seiner therapeutischen Möglichkeiten verweist und andeutet, der Patient müsse sich eventuell dauerhaft mit seinem gegenwärtigen Zustand abfinden. Dadurch wird das Beziehungsschema des Patienten aufgespalten, er reagiert zunächst mit Enttäuschung, Wut etc., wird aber schließlich zu mehr Initiative ermutigt. Auf diese Weise kommt wieder ein Therapiefortschritt in Richtung des Ziels, der Vereinigung von Natur und Kultur, in Gang.


Therapie der Ätiologie Untersozialisation

Dialektik der Ätiologie

Als Untersozialisation bezeichnet Fischer einen Erziehungsstil, der das Besondere über das Allgemeine stellt: Gültige soziale Normen werden zugunsten des Individuums vernachlässigt oder verzerrt. (vgl. Fischer, 2007, S. 508 ff.) Untersozialisation zeigt sich entweder in Verwahrlosung oder Verwöhnung; beide Formen können auch abwechselnd auftreten. Sie stellen daher in den meisten Fällen die aufgespaltenen Pole dar, die im Konfliktbogen KF 15 und im Polaritätenquadrat KF 17 erarbeitet werden.

Bei der Verwöhnung wird dem Kind im Rahmen seiner primären Sozialisation vermittelt, es sei etwas ganz Besonderes und habe deshalb eine Sonderstellung verdient – unabhängig von seinem Verhalten. So kommt es zu einer Spaltung von Sein und Handeln. Sie stellt die pathogenetische Polarität der Untersozialisation dar. Eventuell kann auch eine Wunsch-/Abwehr-Dynamik bei der Untersozialisation relevant sein, wobei die Wünsche – anders als bei der Übersozialisation – im Allgemeinen ausgelebt werden.
Störungen, die sich aus der US-Ätiologie entwickeln, sind vor allem die dissoziale Persönlichkeit (ICD), die Borderline-Störung sowie dissoziative und narzisstische Persönlichkeiten.

Umgang mit der Abwehr
Das Therapieziel besteht darin, Sein und Handeln wieder zu einer Identität zu integrieren, wobei sich der Selbstwert des Patienten weniger aus dem Sein als aus dem Handeln ableitet.
In der Therapie von Patienten mit US-Ätiologie haben sich Trainingselemente als besonders hilfreich erwiesen, denn so können eingefahrene Verhaltensmuster durchbrochen werden. Das Üben sozialen und empathischen Verhaltens steht hier im Mittelpunkt. Bei stationären Aufenthalten erweisen sich Token-Systeme als hilfreich für den Abbau der Abwehr.
Hier gilt das Prinzip des dekonstruktiven Einsatzes von Trainingselementen bei Untersozialisation, um zu vermeiden, dass sich die oft sehr anpassungsfähigen Patienten nur formell oder aus strategischen Gründen in das Trainingsprogramm fügen.

  „Bei UntS sollte die Therapeutin besonders darauf achten sie dekonstruktiv einzusetzen, um   eingeschliffene Verhaltensmuster zu unterbrechen und die leitenden Motive aufzudecken und   durchzuarbeiten. Die positive Vorgabe eines geschlossenen Verhaltensprogramms sollte vermieden   werden (Fischer, 2007, S. 512).

Außerdem kann die Arbeit mit den Erlebniszuständen im Sinne der Konfigurationsanalyse hilfreich sein. Zum einen lassen sich so Illusionen des Patienten über sein Selbst schrittweise abbauen, zum anderen erkennt er dadurch, dass sein Sein nichts Vorgegebenes oder Festgeschriebenes ist.

Basisintervention
Je nachdem, ob Verwahrlosung oder Verwöhnung beim Patienten dominieren, unterscheidet sich die basale Interventionslinie (Fischer, 2007, S. 515):
Beispiel Basisintervention Verwöhnvariante:

  • Sie sind davon überzeugt, dass ein besonderer Vorzug von Ihnen darin besteht, einer so bekannten und verdienstvollen Familie (Initiativgruppe, Nationalität, etc.) anzugehören, bzw. die Eigenschaften xy zu besitzen…
  • Aber manchmal sind Sie dem Anspruch, der sich damit verbindet und den Sie an sich stellen, noch nicht vollends gewachsen, z. B…
  • Was können wir beide tun, damit Sie dieser Herausforderung, die Sie auf sich genommen haben, noch besser entsprechen können?

Beispiel Basisintervention Verwahrlosungsvariante:

  • Es gibt in Ihnen einen starken inneren Anteil, der für andere sehr fürsorglich sein kann.
  • Manchmal vernachlässigt er jedoch ausgerechnet denjenigen Anteil in Ihnen, der ihm eigentlich am nächsten steht, das hilflose kleine Mädchen „x“/den hilflosen kleinen Jungen „y“
  • Was können wir beide tun, damit der starke Anteil noch besser für sich sorgt, u. d. h. auch für das kleine Mädchen/den kleinen Jungen, das/der er eigentlich ja selbst ist?

Beziehungsgestaltung
Da Verwöhnung und Vernachlässigung häufig mit der Ätiologie Untersozialisation verbunden sind, empfiehlt sich eine therapeutische Haltung, die durch Konsequenz gekennzeichnet ist. Um das Einhalten von Regeln durchzusetzen und das therapeutische Vorgehen voranzubringen, ist eine gewisse Strenge angezeigt. Wünsche des Patienten nach Sonderbehandlung sollten gedeutet, aber nicht erfüllt werden. Insgesamt ist die Leistungsorientierung des Patienten zu fördern. Dieser Ansatz kann durchaus als nachträgliche Erziehung des Patienten angesehen werden, die seine Sozialisationsdefizite ausgleichen soll (ebd., S. 517).

Prozessgestaltung
Die beschriebene therapeutische Haltung löst beim Patienten häufig Wut, Enttäuschung  und Aggression aus, die sich unbewusst mit einem Todeswunsch gegen den Therapeuten verbinden können. Typisch ist dabei ein Verlauf, in dem sich zunächst der Patient als Herr der Lage fühlt und aufführt, wobei er Therapie und Therapeut als Dienstleistung betrachtet. Im Laufe der Zeit dreht sich dieses Verhältnis im Erleben des Patienten um: Er empfindet sich jetzt als abhängig von der Therapie und dem Therapeuten als „Herrscher“. Hier ist der Therapeut gefordert, erstens die kreative Funktion der Aggression zu sehen, die Entwicklungsschritte fördern kann. Zweitens sollte er seine Autorität durch Güte und Gerechtigkeit im Sinne einer optimalen Differenz gestalten: Seine Fairness und Warmherzigkeit unterscheiden sich damit positiv von früheren Erfahrungen des Patienten mit anderen Autoritätspersonen.

Forensische Traumatherapie:
Kombination der Ätiologien Untersozialisation und Trauma

Im forensischen Umfeld ist häufig eine Kombination der Ätiologien Untersozialisation und Traumatisierung (v. a. durch soziale Gewalt) anzutreffen. Delinquentes Verhalten kann daher als Kompromiss zwischen Traumaschema und Traumakompensatorischem Schema betrachtet werden: Als Täter kann der Patient die eigene Hilflosigkeit (als früheres Opfer) überwinden, indem er sie an andere Opfer weitergibt und sich mit der Macht des früheren Täters identifiziert. So wird er vom hilflosen Opfer zum mächtigen Täter. Im Tatverhalten wird das TS, nun überformt durch das TKS, reaktiviert. Eine (unbewusste) Identifizierung mit dem eigenen Opfer bleibt aber auch bestehen.

Insgesamt ist im therapeutischen Verlauf die Dynamik beider Ätiologien berücksichtigen. Die Diagnostik und Therapie mit Hilfe der Konfigurationsanalyse (KF 14 Erlebniszustände) hat sich als sehr hilfreich erwiesen. Nach einer ersten Stabilisierung des Patienten kann er allmählich Verbindung zu seinem eigenen Opferstate aufnehmen und mit der Spaltung seiner Täter- und Opferanteile konfrontiert werden, um schließlich eine Metaposition zu dieser Polarität zu finden. Traumabearbeitung und -integration in die Lebensgeschichte sind also zentral für die Therapie. Es ist für Sicherheitsmaßnahmen zu sorgen, falls der Patient durch Reaktivierung des TS in „Tatstimmung“ gerät.

 Therapie der biologischen Ätiologie

Dialektik der Ätiologie

Die Dialektik der biologischen Ätiologie liegt darin begründet, dass wir unseren Körper sowohl subjektiv als auch objektiv wahrnehmen: Dass wir einen Körper haben, aber auch dieser Körper sind, stellt eine dialektische Einheit dar. Aus der Aufspaltung dieser Subjektivität und Objektivität können verschiedene Störungen entstehen (Fischer, 2007, S. 523 ff.).
Im Folgenden wird die Therapie psychobiologischer Phänomene im Rahmen der übrigen drei Ätiologien dargestellt.

Psychobiologie der traumatischen Erfahrung – die unterbrochene Handlung
Die unterbrochene Handlung bei der traumatischen Ätiologie äußert sich auf biologischer Ebene wie bereits gezeigt in einer Aufspaltung des sensorischen und des motorischen Flügels. Gerade Patienten mit Extremtraumatisierungen z. B. durch Folter sind körperlich oft „außer sich“, weil sie das Körper-Sein zum Schutz in der traumatischen Situation aufgegeben haben. Entsprechend können sich Therapieansätze auch von der motorischen Seite der Bearbeitung des Traumas nähern, das als sozusagen eingefrorene Erinnerung im Muskelsystem des Körpers gespeichert ist. Die Myoreflextherapie wurde bereits als eine solche Komplementärtherapie beschrieben, die genau diesen Ansatz verfolgt. So lassen sich z. B. neuromuskuläre Schmerzzustände durch Palpationen behandeln, die schließlich zu einer Reintegration von Körper-Sein und Körper-Haben führen.

Sonderfall: Psychobiologie der Psychose – die blockierte Handlung
Psychose stellt eine Regression auf das subjektive Selbst, d. h. auf das Körper-Sein und die ikonische Ebene dar. Sie kann auf dem Hintergrund einer traumatischen Ätiologie entstehen, z. B. durch ein schweres Beziehungstrauma vom Double-Bind-Typus, das auf Grund der widersprüchlichen Signale des Double Binds zu einer blockierten Handlung führt. Psychotisches Erleben ist daher als TKS zu verstehen, d. h. als extreme Gegensteuerung zur Handlungsblockierung (TS). Diese Dynamik kann auf biologischer Ebene zu Symptomen wie Katatonie oder Bewegungssturm führen.

Die Therapie setzt wie die normale Traumatherapie bei einer Stärkung und Differenzierung des TKS an. Der Therapeut sollte sich also zunächst auf die psychotischen Vorstellungen des Patienten einlassen und dabei „mitspielen“. „Die therapeutische Intervention fördert den Übergang vom subjektiven zum objektiven Selbst, von der ikonischen zur indexikalischen Ebene. Durch Übersetzung auf die symbolische Ebene werden die ikonisch repräsentierten Inhalte des subjektiven Selbst ‚normalisiert’ und in Alltagssprache überführt. Dieser letzte Schritt geschieht am wirksamsten in einer gemeinsamen therapeutischen Handlungs-situation, die einen spielerischen Charakter trägt“ (Fischer, 2007, S. 556)

Psychobiologie der Übersozialisation – die gehemmte Handlung/
Psychobiologie der Untersozialisation – die enthemmte Handlung

Die Therapie der Psychobiologie der Über- und Untersozialisation folgt den allgemeinen Prinzipien der Ätiologien Über- und Untersozialisation.

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