Komorbidität

Da die traumatische Ätiologie eine Reihe verschiedener Störungen hervorrufen kann, ist es sinnvoll, in diesem Sinne von einem Traumaspektrum zu sprechen. Darüber hinaus treten viele dieser psychischen Störungen gleichzeitig auf (Komorbidität) und sollten auch deshalb im Zusammenhang betrachtet werden. Orientiert man sich an den Diagnosekriterien des DSM IV gehören neben der Akuten und Posttraumatischen Belastungsstörungen z. T. auch Somatoforme Störungen, Dissoziative Störungen und Persönlichkeitsstörungen zum Traumaspektrum.


Posttraumatische Belastungsstörung
Akute und Posttraumatische Belastungsstörung gelten im DSM IV als Angststörungen.
Fischer und Riedesser ziehen grundsätzlich den Begriff bPTBS für basales Psychotraumtisches Belastungssyndrom vor, um eine Gleichsetzung von Trauma und Ereignis zu vermeiden (Fischer und Riedesser, 2003, S. 46 f.). Zudem distanzieren Sie sich von der anglo-amerikanischen Bezeichnung „Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)“, weil Stress zumeist mit alltäglichen Belastungen assoziiert ist und nicht mit den extremen Erfahrungen, die zu einer Traumatisierung führen. Dafür spricht auch, dass eine normale Stressreaktion neurobiologisch anders abläuft als die Physiologie bei traumatischer oder chronischer Belastung
Die Diagnosekriterien der PTBS nach DSM IV umfassen sechs Aspekte:

A: Vorliegen eines traumatischen Ereignisses
B: Intrusion
C: Vermeidungsverhalten
D: Anhaltendes Hyperarousal
E: Symptomdauer > 1 Monat
F: Soziale, berufliche u. a. funktionelle Beeinträchtigung


Zur Erklärung hier die ausführliche Definition im DSM-Wortlaut (Saß et al., 1996, S. 491 f.):

    A.   Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die folgenden       Kriterienvorhanden waren:

    (1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren      Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod, ernsthafte      Verletzung, eine Gefahr der körperlichen Unersehrtheit der eigenen Person      oder anderer Personen beinhalten.
    (2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder       Entsetzen. Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder       agitiertes Verhalten äußern.

    B.   Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen       wiedererlebt:

(1) Wiederkehrende und eindringlich belastende Erinnerungen an das       Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen       können. Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in       denen wiederholt Themen oder Aspekte des Traumas ausgedrückt       werden.

(2) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt       (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen,       Halluzinationen oder dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich       solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten).       Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische       Neuinszenierung auftreten.

(3) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen       oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen       Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

(4) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder       externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen       Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

C.   Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind oder eine       Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden).
      Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:

    (1)   Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder        Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen.

    (2)   Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen,        die Erinnerungen an das Trauma wachrufen.

    (3)   Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu        erinnern.

    (4)   Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an        wichtigen Aktivitäten.

    (5)   Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen.

    (6)   Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z. B. Unfähigkeit,        zärtliche Gefühle zu empfinden).

    (7)   Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z. B. erwartet nicht        Karriere, Ehe, Kinder oder ein normal langes Leben zu haben).

D.   Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden).
      Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:

(1)   Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlagen,

(2)   Reizbarkeit oder Wutausbrüche,

(3)   Konzentrationsschwierigkeiten,

(4)   Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz)

(5)   Übertriebene Schreckreaktion.

E.  Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als einen      Monat.

F.   Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder       Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen       Funktionsbereichen.

Bestimme, ob

  • Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
  • Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.

Bestimme, ob

  • mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Belastungsfaktor liegt.


































 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwar noch keine diagnostische Kategorie, aber in Studien nachweisbar ist die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, wie sie Herman (1992) beschrieben hat. Sie ist durch eine spezifische Symptomatik gekennzeichnet, die sich typischerweise im Zusammenhang mit extremen, längeren oder wiederholten traumatischen Erfahrungen (Typ-II-Trauma) ergeben. Zu den Symptomen zählen:

Charakteristisch ist darüber hinaus eine anhaltende Persönlichkeitsveränderung in Folge der Extrembelastung, die sich z. B. in generellem Misstrauen, sozialem Rückzug und dem ständigen Gefühl der Bedrohung, Nervosität oder Andersartigkeit äußern kann.
Verwandt mit diesen Konzepten ist auch die von Ochberg beschriebene Viktimisierungsstörung, die sich anhand folgender Merkmale erkennen lässt (vgl. Ochberg, 1993, S. 773 ff.):

1. Erfahrung oder Beobachtung eines gewalttätigen und psychologischen
    Missbrauchsereignissen oder erzwungener sexueller Aktivität

2. die Entwicklung von einiger der folgenden zehn Kennzeichen:

- Gefühl nicht mit der sozialen Umwelt zu Recht zukommen (Passivität, Verlust von
   Vertrauen  und Selbstvertrauen)
- Gefühl dauerhaft verletzt zu sein
- Isolationsgefühl/Unfähigkeit zu intimen Beziehungen
- Unterdrückung oder starker Ausdruck von Ärger
- Bagatellisierung eigener Verletzungen
- Amnesie für die traumatische Erfahrung
- Neigung zur Selbstanklage des Opfers statt des Täters
- Neigung erneut Opfer zu werden
- Übernahme der verzerrten Vorstellungen/der Weltsicht des Täters
- Täteridealisierung
3. Symptomdauer: mindestens ein Monat

Eine Schwierigkeit bei der Erfassung einer postraumatischen Belastungsstörung liegt in dem Umstand begründet, dass sie – wie einleitend beschrieben – ein breites Komorbiditätsspektrum aufweist.

Fischer und Riedesser (2003, S. 123 ff.) beschreiben diese verschiedenen Komorbiditäten als jeweilige Ausprägung bzw. Verlaufsgestalt eines traumatischen Prozesses. Das bedeutet, dass der traumatische Prozess – in seiner zeitlichen Ausdehnung  und Entwicklung erfasst (prozessorientierte Sicht) – unterschiedliche Symptomkonstellationen hervorzubringen vermag. Wie im Kapitel 10.2.3 schon aufgeführt, handelt es sich dabei um verschiedene „Verlaufstypen“: Angst-, Sucht-, Dissoziations-, Somatisierungs- und  Vermeidungs-Typ (Fischer und Nathan, 2002). Ferner zählen die Autoren einen dissoziationsarmen sowie einen leistungsorientierten Typ zu diesem Spektrum.

Komorbidität

 

Mit anderen Worten, eine Panik- oder Angststörung nach ICD-10 (F40.* und F41.*) entspräche bei prozessorientierter Betrachtung einem Verlaufstyp von Angst und Erregung, eine Somatisierungs-störung (ICD-10: F45.*) entsprechend dem Verlaufstyp einer Somatisierung. Suchterkrankungen (ICD-10: F1*.*) als häufige Komplikation von Psychotraumastörungen würden in Sinne einer prozessorientierten Betrachtung der traumatischen Reaktion als suchtkompensatorischer Verlaufstyp beschrieben werden. Dominiert ein Vermeidungsverhalten das klinische Erscheinungsbild, so können sich depressive (ICD-10: F3*.*) oder dissoziative (F44.*) Störungen manifestieren.

 


Dissoziative Störungen

Nach DSM IV zeichnen sich Dissoziative Störungen vor allem aus durch „eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt“ (DSM IV, S. 543). Bering (2005) beschreibt die Dissoziative Störung als typische Folge psychotraumatischer Einflüsse.


Somatoforme Störungen
Somatoforme Störungen, die vielfach nach pychischer Traumatisierung beobachtet werden, sind durch körperliche Symptome gekennzeichnet, die mit keinem medizinischen Krankheitsfaktor erklärt werden können, also ohne organischen Befund bleiben..


Affektive Störungen
Depressive Störungen sowie anhaltende Dysphorie und Freudlosigkeit zeigen sich häufig bei Opfern von Gewalt und Misshandlung (Krystal, 1991; Kiser et al., 1991, zit. nach Bering, 2005, S. 45). Auch zeigt sich die Fähigkeit der Affektregulation typischerweise vermindert (ebd.).

 

Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeitsstörungen lassen sich sicherlich nur am Rande dem Traumaspektrum zuordnen. Dennoch weist gerade die Borderline Persönlichkeitsstörung Verhaltensweisen auf, die sich durchaus auf eine traumatische Ätiologie zurückführen lassen.
Unter einer Persönlichkeitsstörung versteht man allgemein ein „überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten [..], das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, seinen Beginn in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter hat, im Zeitverlauf stabil ist und zu Leid oder Beeinträchtigungen führt“ (DSM IV, S. 711). Bei der Borderline Persönlichkeitsstörung findet sich ein Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität.

 

 

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