Neuro1

Zahlreiche neurowissenschaftliche Befunde der letzten Jahre haben neue Einblicke in die biologischen Mechanismen nach schweren Traumatisierungen ermöglicht. So konnte gezeigt werden, dass psychische Traumata nicht nur mit einer veränderten Stressphysiologie einhergehen. Vielmehr darf davon ausgegangen werden, dass sie - insbesondere bei Chronifizierung des Leidens - zu einer Vielzahl struktureller und funktioneller Veränderungen im Gehirn führen.

 

Grundlagen zum Gedächtnis
Lernen und Gedächtnis sind komplexe kognitive Aufgaben, bei denen einerseits viele Hirnstrukturen funktionell zusammenarbeiten und andererseits auch emotionale und situative Faktoren eine große Rolle spielen (Markowitsch, 2007). Nahezu alles Wissen, das Menschen im Laufe ihres Lebens erwerben, ist erlernt; ob in Form eines individuellen Wissens, das durch persönliche Erfahrungen erworben wurde oder als - durch Weitergabe gewonnenes – sozio-kulturelles Wissen. Ohne die Fähigkeit, einmal abgelegtes Wissen wieder abzurufen, sprich ohne ein Erinnerungsvermögen, könnte sich der Mensch gedanklich nur im gegenwärtigen Augenblick bewegen. Unfähig, aufgrund von Erfahrungswerten oder Erkenntnissen, sein Verhalten zu verändern (d.h. zu Lernen), besäße er weder ein zusammenhängendes Bild seiner eigenen Historie, noch die Fähigkeit, Zukünftiges gedanklich vorwegzunehmen. Er besäße kein Gestern und kein Morgen, lediglich den kleinen Ausschnitt gelebter Gegenwart.

Gedächtnis

Gliederungsformen im Überblick
Entsprechend seiner Komplexität und Funktionsvielfalt stellt das Gedächtnis kein einheitliches Gebilde dar, sondern kann nach unterschiedlichen Kriterien unterteilt bzw. gegliedert werden. Üblicherweise verwendete Kriterien sind Zeit (Speicherdauer), Inhalt, Bewusstheitsgrad und sprachliche Erfassbarkeit.

 

Zeitlich Gliederung der Gedächtnissysteme
Bei der zeitlichen Gliederung durchlaufen neue Informationen folgende Gedächtnisformen, in denen sie stufenweise gespeichert werden:

Das sensorische Gedächtnis verarbeitet und speichert die verschiedenen Sinnesreize in den sensorischen und assoziativen Kortexarealen zu einem sensorischen Eindruck. Während die Kapazität dieses sensorischen Speichers nahezu unbeschränkt groß ausfällt, beträgt die Speicherungsdauer nur wenige Millisekunden bis zu einer Sekunde (Markowitsch, 2006, S. 80). In dieser Spanne laufen Vergleichsprozesse ab, die entscheiden, ob die Informationen weitere Aufmerksamkeit verdienen. Je nachdem werden die gespeicherten von neu eingehenden Sinnessignalen überschrieben oder gehen über ins Kurzzeitgedächtnis (ebd.).

Das Kurzzeitgedächtnis  speichert Daten in ihrer zeitlichen Ordnung bei einer Kapazität von rund sieben, nach neueren Studien nur vier Items, die höchstens einige Minuten behalten werden (Markowitsch und Welzer, 2005, S. 80). Die Speichermenge kann durch die Organsiation der Items zu sinnvollen Einheiten ('Chunks') erhöht werden. Das Kurzzeit- und das Arbeitsgedächtnis sind die einzigen Gedächtnisspeicher, deren Inhalte dem Bewusstsein zugänglich sind. Während das Kurzzeitgedächtnis eher passiv gedacht wird, handelt es sich bei dem Arbeitsgedächtnis – obwohl in der Literatur häufig mit dem Kurzzeitgedächtnis gleichgesetzt - um eine besondere Form des Kurzzeitgedächtnisses (Birbaumer und Schmidt, 2006, S. 602).

Das Arbeitsgedächtnis  ist insbesondere für die akitve Verarbeitung von kurzzeitig erworbenen Gedächtnisinhalten, aber auch für die Aktivierung der schon fest gespeicherten Daten des Langzeit-gedächtnisses verantwortlich. Nach dem Modell von Baddeley (Baddaley, zit. in Hasselhorn und Gold, 2005) enthält das Arbeitsgedächtnis vier Komponenten:

Ptw

Somit ist auch das Kurzzeitgedächtnis kein einheitliches System, sondern funktioniert vielmehr je nach Inhalt und vor allem Aktivitätsgrad unterschiedlich. Bedeutsam ist seine beschränkte Verarbeitungs-kapazität.

Schließlich bildet das Langzeitgedächtnis den dauerhaften Informationsspeicher des Menschen. Entsprechend groß sind Kapazität und Speicherdauer. Damit Daten langfristig behalten werden, muss ein Konsolidierungsprozess stattfinden (s. u.).
Das Langzeitgedächtnis steht nicht nur mit dem KZG bzw. AG in Wechselwirkung, um Informationen wieder dem Bewusstsein zugänglich zu machen, sondern auch mit dem Ultrakurzzeitgedächtnis (UKZG), dem es Informationen zur Verfügung stellt, die für die Identifikations- und Filterprozesse benötigt werden. Somit formt und beeinflusst das Gedächtnis die aktuelle Wahrnehmung und die weiteren Verarbeitungsprozesse. Vergangene Erlebnisse formen somit die gegenwärtige Wahrnehm-ung.
Die zeitlichen Gedächtnissysteme weisen darauf hin, dass Informationen in einem mehrstufigen Prozess verarbeitet werden müssen, um sie langfristig zu behalten. Die Abfolge umfasst die Stadien Einspeicherung (Enkodierung) – Konsolidierung – Ablagerung – Abruf (vgl. Thöne-Otto, 2008).



Inhaltliche Gliederung der Gedächtnissysteme
Nach Markowitsch und Welzer (2005), die in der Tradition des Gedächtnisforschers Tulving stehen, wird das Langzeitgedächtnis in die fünf folgenden Systeme eingeteilt. Die Aufzählung entspricht der Reihenfolge ihrer Entwicklung beim Menschen:

Das prozedurale Gedächtnis enthält vor allem Fertigkeiten und Bewegungsabläufe wie Auto- und Fahrradfahren, Klavierspielen oder sportliche Aktivitäten. Es baut demnach auf motorischen Kompetenzen auf, die sich schon im Säuglingsalter durch Tasten und Greifen zu entwickeln beginnen. Das prozedurale Gedächtnis umfasst damit Wissen, wie etwas zu tun ist. Dieses Wissen ist hoch automatisiert und meist unbewusst gespeichert.
Das Priming-Gedächtnis beinhaltet gebahntes Wissen, d. h. Informationen, die man mit größerer Wahrscheinlichkeit wiedererkennt, weil sie zuvor in irgendeinem Zusammenhang bereits unbewusst oder bewusst wahrgenommenen wurden. Solche gebahnten oder geprägten Reize werden auch schneller verarbeitet.
Das perzeptuelle Gedächtnis verarbeitet Reize, die nach persönlicher Vertrautheit und allgemeiner Bekanntheit erkannt werden. Dieses Wissen beruht auf Erfahrungen, z. B. durch welche typische Form sich Äpfel und Birnen unterscheiden. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Gedächtnissystemen bildet das perzeptuelle Gedächtnis daher bereits komplexes und bewusstes Wissen.
Das semantische Gedächtnis (Wissenssystem) enthält allgemeines Faktenwissen wie es in einem Lexikon zu finden ist. Es wird zeit- und ortsunabhängig gespeichert und im Zusammenhang mit der kindlichen Sprachentwicklung allmählich aufgebaut.
Das episodische Gedächtnis umfasst dagegen Ereignisse und Erlebnisse mit persönlichem Bezug. Diese Episoden werden immer im Zusammenhang mit ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext abgespeichert. Da die meisten dieser Episoden biografische Erfahrungen sind, setzt man das episodische Gedächtnis meist mit dem autobiografischen gleich. Einige Autoren verweisen aufgrund der Aktivierung jeweils unterschiedlicher Netzwerke auf eine Unterscheidungsmöglichkeit innerhalb des episodischen Gedächtnisses in neutral-episodische Informationen einerseits und affektiv-autobiografische Inhalte andererseits (Thöne-Otto, 2008, S. 322 ff.).
Erinnerungen des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses weisen immer einen Ich-Bezug und i.d.R. eine Verbindung mit Gefühlen auf, die entweder positiv oder negativ bewertet werden (Markowitsch und Welzer, 2005, S. 83). Außerdem ist das autobiografische Gedächtnis - wie oben schon beschrieben - autonoetisch, d. h. wir können uns bewusst erinnern und sind uns unserer Selbst gewahr, das sich erinnert.


Die Bedeutung des emotionalen (impliziten) Gedächtnisses

Mit Squire führen viele Autoren unter dem non-deklarativen (impliziten) Gedächtnis die klassische Konditionierung und damit auch einfache emotionale Reaktionen an. Es ist zwar richtig, dass diese Gedächtnisform 'implizit' und 'nicht-deklarativ' arbeitet, jedoch zählen Tulving und Markowitsch das emotionale Gedächtnis zum episodisch-autobiographischen Gedächtnissystem (Markowitsch und Welzer, 2005, S. 68 ff.). Es findet sich dort - wenn auch durch getrennte Netzwerke und unterschiedliche Strukturen repräsentiert - gleichsam verwoben mit den kontextuellen Daten der individuellen Biografie. Emotionen als bedeutsamer Teil des autobiographischen Gedächtnisses werden typischerweise mit den kognitiven Anteilen gemeinsam als integrierte Einheit erinnert (ebd.). Jedoch ist es von herausragender Bedeutung, dass emotionale Inhalte auch unabhängig vom deklarativen Gedächtnis erworben werden können (Roth und Dicke, 2006, S. 24 f.).
Für die emotionale Gedächtnisbildung im Kontext des deklarativen Gedächtnisses spielt der modulierende Einfluss der Amygdala auf den Hippocampus eine entscheidende Rolle, der neben der Enkodierung auch die Konsolidierungsphase betrifft (Goschke, 2007, S. 107). Starke Projektionen verbinden die Amygdala mit dem Hippocampus, über die die oben beschriebenen Prozesse neuronaler Plastizität innerhalb des Hippocampus beeinflusst werden (Roth, 2003, S. 170; Roth und Dicke, 2006, S. 22).
Während für diese modulierenden Einflüsse der Amygdala auf den Hippocampus im Falle der emotionalen deklarativen Gedächtnisbildung die basolaterale Amygdala (BLA) eine entscheidende Rolle spielt, zeigen sich der laterale und der zentrale Kern der Amygdala als wesentliche Schaltstellen für die Angstkonditionierung als basale nicht-deklarative Form emotionalen Lernens (implizites emotionales Lernen) (Roth und Dicke, 2006, S. 25). Hier entstehen konditionierte Reaktionsketten, deren Verknüpfungen (Assoziationen) nicht durch bewusste Vorstellung, sondern allein aufgrund des (häufigeren) gemeinsamen Auftretens ausgebildet werden.

Inbesondere für die Psychotraumatologie ist die Tatsache, dass implizite (emotionale)  und deklarative (den Kontext sowie die raum-zeitliche Einordnung betreffende) Gedächtniselemente dissoziieren können, von besonderer Bedeutung (Goschke, 2007, S. 115).

 

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