Gedächtnisphänomene im Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung
Um Informationen langfristig zu behalten, müssen sie zunächst enkodiert, dann konsolidiert und schließlich im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden. Bei der Enkodierung wird eine Gedächtnisspur der Information angelegt, die in der Konsolidierungsphase im neuronalen Netzwerk verknüpft wird, bis die Abspeicherung als dauerhafte Erinnerung erfolgt. Alle diese Prozesse sind ebenso wie der Abruf von bereits gespeicherten Gedächtnisdaten unter traumatisierenden Einflüssen sehr störanfällig (vgl. Hinckeldey und Fischer, 2003, S. 51 ff.). 

Der zeitliche Verlauf von Gedächtnisprozessen lässt sich teilweise mit dem dynamischen Verlaufs-modell psychischer Traumatisierung in Verbindung bringen (ebd.).

ptw


Gedächtnisprozesse in der traumatischen Situation
Für die traumatische Situation ist ein hohes Erregungsniveau des Betroffenen charakteristisch, das gleichzeitig die Aufmerksamkeitskapazität reduziert. Dadurch werden Gedächtnisprozesse gestört. Studien belegen wiederholt, dass extrem intensive Emotionen einen negativen Einfluss auf (insbesondere deklarative) Gedächtnisleistungen haben. Unklar bleibt noch, ob die Affekte dabei direkt auf das Gedächtnis wirken oder ihren Effekt über die Reduzierung der Aufmerksamkeit ausüben.

Maximal gesteigerte emotionale Erregung wird auch als Auslöser der Flashbacks  herangezogen, von denen man annimmt, dass sie im Vergleich zu normalen Erinnerungen anders strukturiert sind und anders im LZG gespeichert werden. Hierzu liegen allerdings noch keine einheitlichen empirischen Ergebnisse vor.

Neben gesteigerter Erregung und verminderter Aufmerksamkeit ist als drittes gedächtnisrelevantes Element  eine veränderte Wahrnehmung kennzeichnend für die traumatische Situation. Zumeist handelt es sich um eine verzerrte oder eingeengte (Tunnelsicht) Wahrnehmung, die zwangsläufig nur eine ausschnittartige Enkodierung der traumatischen Situation erlaubt.

 

Gedächtnisprozesse bei der traumatischen Reaktion
Während der traumatischen Reaktion kommt es im Wechselspiel von Vermeidung und Intrusion zu Abwehrversuchen, die sich auf Gedächtnisebene in der Abspaltung (Dissoziation) von Gedächtnisinhalten manifestieren können. Demnach werden traumatische Erlebnisse zwar durchaus konsolidiert und gespeichert, bleiben jedoch für den bewussten Abruf unzugänglich.

 

Gedächtnisprozesse im traumatischen Prozess
Wenn keine Erholung nach dem traumatischen Ereignis einsetzt, sondern die Erfahrung unterschwellig andauert, geht die traumatische Reaktion in den langfristigen traumatischen Prozess über. In Hinblick auf das Gedächtnis entspricht dieses Stadium der Ausbildung von traumaspezifischen kognitiven und emotionalen Schemata: Das Traumaschema (TS) enthält die traumatische Situation einschließlich der erfolglosen Kampf- und Fluchtreaktion im Sinne einer unterbrochenen Handlung, die auf Vollendung und deshalb nach Wiederholung drängt. Das Traumakompensatorische Schema (TKS) umfasst entsprechend persönliche Schutz- und Bewältigungsversuche. Ebenso entsteht in dieser Phase das Traumaskript, das zur besseren Erträglichkeit die traumatische Erfahrung in einzelne Abschnitte segmentiert und so kontrollierbar macht.
Versucht man traumatische Erfahrungen mit Hilfe von allgemeinen Netzwerktheorien des Gedächtnisses zu erklären, scheitert dies in den meisten Fällen an der fehlenden Berücksichtigung der dynamischen, zeitlichen und reflexiven Dimensionen (vgl. ebd., S. 70).

Phase im Verlaufsmodell

Gedächtnisprozess


Traumatische Situation

  
  Enkodierung beeinflusst durch Übererregung,   Aufmerksamkeitsminderung und Wahrnehmungsverzerrung


Traumatische Reaktion


  Konsolidierung abgespaltener Gedächtnisinhalte


Traumatischer Prozess

  
  Bildung traumabezogener kognitiv-emotionaler Schemata (TS,   TKS, Traumaskript)


Traumaspezifische Gedächtnisleistungen

Klinische und neurobiologische Forschungsergebnisse sprechen dafür, ein traumaspezifisches Gedächtnis im Sinne eines eigenständigen Gedächtnissystems anzunehmen (Hinckeldey und Fischer, 2002, S. 108 ff.; Van der Kolk und Fisler, 1995, S. 505 ff.).
Gedächtnisstörungen treten in Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen in zwei Varianten auf:

Van der Kolk et al. (1995) erklären diese Störungen damit, dass bei hochgradiger emotionaler Erregung die Verbindung zwischen Hippocampus und Amgydala funktionell unterbrochen wird. Dadurch können Informationen nur noch als isolierte emotionale oder somatosensorische Erlebniszustände ohne zeitlich-räumlichen Kontext gespeichert werden. Im Einzelnen gehen sie von folgenden traumaspezifischen Gedächtnisprozessen aus:
Traumatische Erinnerungen werden

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es Hinweise für die Existenz eines traumatischen Gedächtnisses oder zumindest für traumaspezifische Gedächtnisleistungen gibt, die jedoch mit weiteren klinischen und empirischen Untersuchungen noch zu stützen sind.

 

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